Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan voraussichtlich erstmals einer Stichwahl stellen. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen im Inland und rund 37 Prozent im Ausland liegt Erdogan bei 49.35 Prozent der Stimmen. Die Angaben stammen von der obersten türkischen Wahlbehörde, Stand vier Uhr Schweizer Zeit am Montagmorgen.
Oppositionsführer und Herausforderer Kemal Kilicdaroglu kommt demnach auf 44.99 Prozent. Beide Kandidaten verfehlen damit die absolute Mehrheit von 50 Prozent und müssen am 28. Mai in eine Stichwahl.
Die laufenden Entwicklungen zu den Wahlen in der Türkei im Liveticker:
Nach Jahren einer ungefährdeten Machtposition gab es im Vorfeld der Wahl erstmals in Erdogans Amtszeit ernsthafte Anzeichen, dass er auf demokratischem Weg abgelöst werden könnte. In mehreren Umfragen lag Konkurrent Kilicdaroglu vorne. Die Türkei ist tief gespalten, die Stimmung ist angespannt. Nichtsdestotrotz verliefen die Wahlen, soweit bisher bekannt, ohne grössere Zwischenfälle. Nach einer ersten Einschätzung der Wahlbehörde kam es demnach zu keinen gravierenden Problemen. Oppositionspolitiker meldeten einige kleinere Zwischenfälle aus verschiedenen Provinzen.
Zweifel gab und gibt es an den Zahlen der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu. Diese steht der amtierenden Regierung nahe und im Verdacht, die Zahlen zugunsten Erdogans Lager zu schönen, wie ihr von verschiedenen Seiten vorgeworfen wurde.
Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara sagten beispielsweise mehrmals vor den Medien, dass den Angaben nicht zu trauen sei.
Herausforderer Kilicdaroglu bezichtigte Erdogans Partei AKP zudem, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Auch Erdogan warf der Opposition indirekt Sabotage vor, allerdings ohne dabei konkret zu werden.
Nebst dem Präsidenten wählten die Türkinnen und Türken auch das Parlament neu. Die Wahlbehörde bestätigte die Ergebnisse dieser Wahl zunächst noch nicht. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz auch hier ihre Mehrheit verteidigen kann. Stand vier Uhr am Montagmorgen kommt Erdogans Bündnis auf voraussichtlich 266 Sitze, die Oppositionskoalition auf 168. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.
Der Wahlkampf galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als «Säufer» und «Terroristen» bezeichnet. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.
Erdogan zeigte sich trotz des mit Abstand schlechtesten Abstimmungsresultates seiner Karriere gut gelaunt bei einem Auftritt vor seinen Anhängern, nachdem die provisorischen Daten vorgelegen hatten.
Er stellte zudem ebenfalls die Korrektheit der vorläufigen Resultate infrage. Unter anderem sagte der amtierende Präsident, dass er «weit voraus» liege. Er zeigte sich zudem lange optimistisch, dass er noch in der ersten Runde 50 Prozent erreichen könne.
14 Mayıs seçimlerinin uhulet ve suhulet ile büyük bir demokrasi şöleni şeklinde gerçekleşmesi, Türkiye’mizin sahip olduğu demokratik olgunluğun ifadesidir.…
— Recep Tayyip Erdoğan (@RTErdogan) May 14, 2023
Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Bündnisses vor die Medien. «Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte», sagte er.
Der Herausforderer gab sich zudem trotz des Rückstandes vor der voraussichtlichen Stichwahl kämpferisch und bereit für eine nächste Runde. Wenn die Nation eine zweite Runde wolle, seien er und sein Lager dafür bereit.
Zuvor rief Kilicdaroglu seine Anhängerinnen und Anhänger auf, bei den Urnen auszuharren. Er bezichtigte Erdogans AKP, mit Einsprüchen das Wahlverfahren an Orten, wo er mit vielen Stimmen rechnen könne, zu verschleppen. Eine unabhängige Überprüfung dieser Vorwürfe liegt bisher nicht vor.
Die Wahl gilt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das Nato-Land unter weiteren fünf Jahren Erdogan noch autokratischer werden könnten. Der 74-jährige Kilicdaroglu ist Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System sowie zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Auch international wird die Wahl aufmerksam beobachtet. Eine neue Regierung hätte Auswirkungen auf Konflikte in der Region wie etwa den Syrien-Krieg, aber auch auf das Verhältnis zur EU und Deutschland.
Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann – für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. In seinen 20 Jahren an der Macht hat er bislang jede landesweite Wahl gewonnen. 2003 wurde Erdogan zunächst Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch diese Stichwahl verloren.
Auf dem weit abgeschlagenen dritten Platz landete Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz mit rund 5.3 Prozent. Dem Aussenseiter könnte noch eine wichtige Rolle zukommen. Bei der Stichwahl wird wichtig sein, welche Wahlempfehlung er vorher abgibt. Er gilt in seinen Positionen Erdogan als wesentlich näher und als eigentlich mit dem Präsidenten verbündet, auch wenn er sich im Wahlkampf gegen ihn aussprach. Dies wurde aber in erster Linie als taktisches Manöver gewertet, da er damit wohl Stimmen im AKP-Lager abgreifen wollte.
Die Auszählung der letzten Stimmen dauert weiter an. Sollte keiner der beiden Kandidaten 50 Prozent erreichen, was unterdessen als sehr wahrscheinlich gilt, kommt es am 28. Mai zu Stichwahl.
Alle Augen schauen nun auf die Grosse Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können. Erdogan kann in dem Fall vor der Stichwahl mit der Gefahr einer Regierungskrise argumentieren. Und er machte das prompt schon in der Nacht zu Montag. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl «Sicherheit und Stabilität» bevorzugten, sagte er.
Erdogan spielte darauf an, dass sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren könnten, sollte die Mehrheit der Abgeordneten an die Regierungsallianz fallen, das Präsidentenamt aber an die Opposition oder umgekehrt. Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.
Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – es ist nicht nur die erste Stichwahl für Erdogan, sondern auch für Herausforderer Kilicdaroglu – und für die Bürger. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.
Mit Material der Nachrichtenagenturen SDA und DPA.
Er bietet keine Perspektive und Zukunft.
Er hat lange von den Reformen seiner Vorgänger profitiert, das Wirtschaftswachstum wäre ohne Erdogan auch heute noch hoch und die Lira stabil.
Sehr schade, dass so viele Menschen einen spaltenden, hasserfüllten Tyrannen wählen. Vor allem zeigt die Geschichte, das alte Männer, die zulange an der Macht waren, kurz vor ihrem Tod die Gesellschaft gerne in den Abgrund ziehen.