Dass die Worte des türkeistämmigen Exil-Journalisten keine Übertreibung oder billige Polemik sind und nicht nur auf Journalistinnen und Journalisten zutrifft, zeigen diese Ereignisse:
26. Januar 2018: 648 Personen werden festgenommen, weil sie sich in den sozialen Medien kritisch zur türkischen Militäroffensive auf Afrin äusserten.
23. Februar 2022: Ein türkischer Journalist wird verhaftet, weil er den Präsidenten Erdogan in Form eines Wortspiels auf Twitter angeblich beleidigt hat.
20. Februar 2023: 78 Personen werden festgenommen, weil sie provokative Beiträge über das Erdbeben in der Türkei veröffentlicht haben, die Angst und Panik geschürt haben sollen.
Nicht nur der türkische Journalismus ringt nach Luft, auch die sozialen Medien befinden sich im Würgegriff der AKP – der rechtspopulistischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, die seit 2002 unter Recep Tayyip Erdogan an der Macht ist.
Da ein Grossteil gegenüber den staatlichen Medien Misstrauen hegt, haben sich Plattformen wie Twitter, TikTok und Co. zu einem politischen Schlachtfeld entwickelt. Genauso wie im Kampf gegen kritische Medien geht Erdogan auch in den sozialen Medien offensiv vor. Genauso erfolgreich ist er damit aber nicht.
Verhaftungen und Gerichtsverfahren gehören für regierungskritische Journalistinnen und Journalisten quasi zum Berufsrisiko. Für Erdogan sind dies keine Journalisten, sondern Terroristen. Auch das ist keine Übertreibung. Die Terrorliste der Regierung listet mehrere Journalisten.
Bei der Einschüchterung kennt Erdogan keine Grenzen. So gelang es ihm in den 20 Jahren an der Macht, die Presse weitgehend unter seine Kontrolle zu bringen. Rund 90 Prozent der Medien sind finanziell oder strukturell mit der Regierungspartei AKP verbunden. Gesetzlich ist Presse- und Medienfreiheit garantiert, de facto aber stark eingeschränkt. Die Türkei ist eines jener Länder mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. In der Rangliste der Pressefreiheit belegt die Türkei Platz 165 von 180.
Mehrere hundert regierungskritische Journalistinnen und Journalisten leben und arbeiten deshalb im Exil. Einer unter ihnen: Regimekritiker Can Dündar. Wegen angeblicher Spionage und Terrorunterstützung ist er zu 27 Jahren Haft verurteilt worden. Nach einer zweiteiligen Inhaftierung und einem misslungenen Mordanschlag floh er nach Deutschland ins Exil, wo er noch immer um seine Sicherheit fürchtet. In einem neuen ZDF-Film berichtet Dündar, wie er auch im Ausland bedroht und gejagt wird.
Dasselbe gilt auch für andere Exil-Journalistinnen und -Journalisten. Gemäss Reporter ohne Grenzen werden türkischstämmige Medienschaffende auch im Ausland «bedroht, physisch angegriffen und in Abwesenheit zu Haftstrafen» verurteilt.
Doch nicht nur bei Medienschaffenden wird versucht, ihnen einen Maulkorb aufzusetzen, sondern auch bei Oppositionellen, welche versuchen, über die sozialen Medien Wähler zu erreichen.
Twitter, Facebook und Co. sind in der Türkei eine wichtige Quelle für unabhängige Informationen. Obschon auch diese einem Arsenal an digitalen Zensurinstrumenten der Regierung unterworfen sind, wie Human Rights Watch berichtet. Diese würden wiederholt eingesetzt, um kritische Stimmen aus der (digitalen) Welt zu schaffen.
Nicht nur jene der Opposition, sondern auch jene des Volkes, die Erdogan als eine «Armee von Trollen» bezeichnet, die für seine Rivalen arbeiten und Lügen und Fehlinformationen im Netz verbreiten würden. «Sie denken sich Pläne aus, auf die nicht einmal der Teufel gekommen wäre», sagt Erdogan im Staatsfernsehen.
Zu den Zensurwaffen zählt die vorübergehende Drosselung des Internets in Zeiten politischer Unruhen, wie etwa bei den Erdbeben im Februar 2023, sowie die Blockierung von Webseiten der Opposition. Ermöglicht hat die Regierung ihr Instrumentarium zur Online-Zensur im Vorfeld der Wahlen selbst – mit dem sogenannten Anti-Desinformations-Gesetz. In Kurzfassung bedeutet die Gesetzesänderung: Wer Fake News im Netz verbreitet, dem drohen bis zu drei Jahre Gefängnis. Das Gesetz verpflichtet Plattformen wie Twitter, Facebook und Co. dazu, Daten von jenen Benutzern herauszugeben, denen eine Straftat vorgeworfen wird. Selbst ein Like kann Konsequenzen nach sich ziehen.
Und wer entscheidet darüber, welche Informationen falsch sind? Das Erdogan-Regime.
Aber nicht nur. Auch Plattformen wie Facebook, TikTok und Co. prüfen gezielt Desinformationen mithilfe von Faktenprüfern. Ein besonderes Augenmerk legen soziale Medien auf Fehlinformationen im Zeiten des Wahlkampfs.
Spezifische Massnahmen im Zusammenhang mit dem Wahltag am Sonntag hat nur ein Social-Media-Riese veröffentlicht: TikTok. Die Plattform wird die Sichtbarkeit von Userinnen und User einschränken, die einen zu frühen Sieg versprechen, wie sie schon vor einem knappen Jahr bekannt gab. Ausserdem hat TikTok seit August 2022 ein Sonderteam bestehend aus türkischen, kurdischen und arabischen Muttersprachlern zusammengestellt, um lokale Narrative aufzuspüren und zu entfernen.
Dennoch rechnen Nichtregierungsorganisationen damit, dass die Regierung für den Machterhalt alle Hebel in Bewegung setzen wird. Human Rights Watch zufolge hat die Regierung bereits Vorkehrungen getroffen, die zum Einsatz kommen, sobald ein unerwünschtes Narrativ verbreitet wird – etwa die Drosslung des Internets.
Viele dürften sich aber wohl bereits entschieden haben. Einen entscheidenden Faktor spielen die mehr als fünf Millionen Erstwähler. Also genau jene Personen, die mit dem Internet, den sozialen Medien und mit Erdogan als Präsidenten gross geworden sind. Ihre Stimmen machen rund 10 Prozent aus. Jemand anderen an der Spitze der Türkei kennen sie bislang nicht. Ob sie auf seiner Seite stehen, wird sich zeigen, die Prognosen tun es jedenfalls nicht.
Dies sollte uns wirklich zu denken geben.....auch für unsere Zukunft und welche politischen Exponente wir wählen wollen oder eben nicht!!!
Wie gesagt Social Media in Türkei oder anderswo IST zur 4.Macht geworden und wird sich auch nicht so schnell normalisieren.