Im Donbass steht eine weitere ukrainische Bastion kurz vor dem Fall. Seit Wochen ist die Grossstadt Sjewjerodonezk schwer umkämpft, nun teilte der Militärgouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, mit, dass die Stadt sehr wahrscheinlich bald von russischen Truppen eingekesselt sein werde. Damit droht ihr das gleiche Schicksal wie zuvor schon der strategisch wichtigen Industriemetropole Mariupol am schwarzen Meer.
Noch liefern sich die verbliebenen ukrainischen Verteidiger zwar erbitterte Gefechte mit russischen Angreifern, doch sehen sie sich seit Wochen einem kaum vorstellbaren Dauerbombardement ausgesetzt. Täglich sterben bis zu 100 ukrainische Soldaten, wie ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich mitteilte, später war sogar von bis zu 200 toten Kämpfern die Rede. Auf russischer Seite dürften es sogar noch mehr sein.
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In und um Sjewjerodonezk und deren Schwesterstadt Lyssytschansk tobt ein Abnutzungskrieg, geführt mit schweren Waffen, hauptschlich Artillerie. Waffensystemen, von denen die Ukraine offenbar viel zu wenige hat. Mit jedem Tag, den der Krieg andauert, zeigt sich die militärische Unterlegenheit deutlicher.
Während Russland erst kürzlich noch 40 Bataillonskampfgruppen mit einer Mannstärke von 600-800 Soldaten in die Region verlegt haben soll, schwinden auf ukrainischer Seite Kampfkraft und Moral. Es mehren sich die Berichte über Desertationen. Die seit Monaten in schwerste Gefechte verwickelten Soldaten sind offenbar am Ende ihrer Kräfte und zum Teil verzweifelt.
Das Problem: Sie haben nicht die nötige militärische Ausrüstung, um den immensen Artillerieangriffen der Russen etwas entgegenzusetzen. Experten sprechen von einer regelrechten «Feuerwalze», mit denen der Putins Armee die Region überzieht.
Im jüngsten Lagebericht der US-Denkfabrik ISW beträgt die Artillerie-Überlegenheit inzwischen 10-15:1 zugunsten Russlands. Manche Berichte sprechen gar von einer 40:1-Unterlegenheit der Ukrainer. Zudem gehen den ukrainischen Streitkräften allmählich die Munition aus. Selbst die Altbestände aus Sowjetzeiten neigen sich laut Geheimdienstberichten dem Ende zu. Nachschub ist kurzfristig nicht in Sicht. Wohl auch deshalb nimmt Gouverneur Hajdaj kein Blatt vor den Mund: Die Lage in Sjewjerodonezk ist für die ukrainischen Verteidiger offenbar dramatisch.
„Die ukrainische Rüstungsindustrie ist (..) zerstört. Schwere Waffen und Munition können nur mehr aus dem Westen kommen. Die Balten, Polen und Tschechien wachsen bei den Waffenlieferungen über sich hinaus, aber sonst herrscht noch zu viel Zurückhaltung.“ https://t.co/9p4jOjtHZR— Janosch f (@janoschjdf) June 10, 2022
Das hat auch mit dem monatelangen Zauderndes Westens zu tun. Erst spät konnten sich die westlichen Verbündeten Länder zu substanziellen Waffenlieferungen durchringen. Nun läuft die Zeit davon. Der österreichische Militärexperte und Historiker Markus Reisner spricht davon, dass den Ukrainern im Donbass derzeit vor allem Mehrfachraketenwerfer fehlen, insbesondere die beiden US-Systeme MLRS (Multiple Launch Rocket System) und HIMARS (High Mobility Artilery Rocket System) würden gebraucht.
Eigentlich hatten die USA bereits die Lieferung der beiden Systeme angekündigt, dann jedoch machte Präsident Joe Biden einen überraschenden Rückzieher. Offenbar gibt es auch innerhalb der Biden-Administration Bedenken, ob die Lieferung der Systeme, die über eine hohe Reichweite verfügen, den Konflikt mit Russland weiter eskalieren könnte. Präsident Putin schickte vorsorglich schon mal entsprechende Drohungen Richtung Washington und warnte davor, diese Systeme zu liefern.
Putin weiss um die prekäre Lage seiner eigenen Truppen. So verfügt Russland zwar durch die ungeheure Anzahl an Menschen und Material über eine numerische Überlegenheit im Donbass, doch auch Moskau gehen langsam die Reserven aus. Die russische Armee sieht sich offenbar gezwungen, MLRS-Raketenwerfer und 152mm-Haubitzen aus der Region Irkutsk in Sibirien in den Donbass zu verlegen. Auch greift sie auf altes und bereits ausgemustertes Material zurück, etwa den T-62-Panzer oder auch Anti-Schiffs-Raketen des Typs Raduga Ch-22.
Three months of Russia’s war in Ukraine in 1.5 minutes. Russia launched at least 2100 missiles at Ukraine. 633 were launched from Belarus. pic.twitter.com/tr0ziwmvws— Franak Viačorka (@franakviacorka) June 8, 2022
Letztere haben eine besondere Brisanz, werden sie doch normalerweise im Seekrieg eingesetzt und dienen zur Zerstörung von Schiffen oder ganzen Flottenverbänden. Nun soll die russische Generalität die beinahe 60 alten Waffen aber gegen Landziele einsetzen lassen.
Das System wurde seit den späten 1950er Jahren vom sowjetischen Konstruktionsbüro Raduga entwickelt und 1964 in Dienst gestellt. Es handelt sich um eine flugzeuggestützte Langstrecken-Lenkwaffe, die in mehreren Versionen hergestellt wurde, sie kann mit konventionellen als auch nuklearen Sprengköpfen bestückt werden. Die Geschosse vom Typ Ch-22 wurden eigentlich dafür entwickelt, Flugzeugträger mit einem Atomsprengkopf zu zerstören.
Setzt man die CH-22 bei einem Bodenangriff mit einem konventionellen Sprengkopf ein, sind sie ungenau und können erhebliche Kollateralschäden sowie zivile Opfer verursachen. Dass Russlands Streitkräfte diesen Waffentyp nun für die Bombardierung von Sjewjerodonezk verwendet, wertet der britische Geheimdienst als Zeichen dafür, dass Putins Armee die modernen Waffensysteme ausgehen. Auch der Militärexperte Gustav Gressel hatte unlängst im Interview mit t-online von einem drohenden Engpass von Präzisionslenkwaffen mit neuester Technologie gesprochen.
Dennoch verfügt Russland über ein Vielfaches der militärischen Ausrüstung wie die Ukraine. Deren Schicksal hängt immer mehr am Willen des Westens, das Land in seinem Kampf gegen die russische Aggression zu unterstützen. Ohne die schnelle Lieferung schwerer Waffensysteme wird die Ukraine nach Meinung von Militärexperten nicht mehr lange in der Lage sein, dem russischen Druck im Donbass zu widerstehen. Und nicht nur dort.
There is an understandable emphasis on Ukrainian forces needing more artillery/munitions, but, as reservist and volunteer units play an increasingly important role in this war on both sides, the relative level of their training will also become critical. https://t.co/CpCUwa5L4H— Rob Lee (@RALee85) June 12, 2022
Als «Schicksalsschlacht» hat Präsident Selenskyj den Kampf um Sjewjerodonezk bezeichnet. Die Industriestadt liegt in einer Ausbuchtung, sie ist von zwei Flanken bereits von russischen Truppen umstellt, nun drohen auch die letzten Nachschubwege abgeschnitten zu werden. Von den einst 100'000 Einwohnern sind etwa 10'000 geblieben, sie verstecken sich unter anderem in Bunkern unter einer Chemiefabrik.
Vor wenigen Tagen erst reiste Selenskyj selbst an die Front, um sich ein Bild zu machen und den Soldaten dort Mut zuzusprechen. Viel mehr als Orden für Tapferkeit hat er gerade nicht zu verteilen.
Russland nutzt die schwierige Situation der ukrainischen Soldaten für eine grosse Propagandaoffensive. So verschiesst die russische Armee mit ihren Haubitzen wohl auch Kartuschen, in denen sich gedruckte Aufrufe zur Kapitulation befinden sollen. Daneben werden laut ukrainischen Geheimdienstberichten die Mobiltelefone ukrainischer Soldaten mit SMS gehackt, auf Kanälen wie Telegram, Viber, Signal und WhatsApp, werden sie zur Aufgabe aufgerufen. Ansonsten gehe es ihnen wie den Verteidigern im Asowstalwerk. Es drohe ein «zweites Mariupol».
Unterdessen erneuerte der Kreml seine Kriegsziele. Laut offiziellen Meldungen soll der Krieg in der Ukraine nun bis mindestens Oktober andauern. Putin weiss längst, dass ein schneller Sieg in weite Ferne gerückt ist.
Eine Eroberung des Donbass, mit der anschliessenden Einverleibung der von Russland sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk wäre für ihn aber ein wichtiger Etappensieg. Er würde ihm innenpolitisch Luft verschaffen und die Möglichkeit zur Anpassung der russischen Kriegsziele bieten: weitere Teile des ukrainischen Territoriums einzunehmen und das Land irgendwann ganz zu unterwerfen.
Jeder m2 der die Ukraine verliert ist auch ein Verlust demokratischen Bodens.