In der Ukraine herrscht seit über 100 Tagen Krieg. Was kann die Schweiz tun, um diesen Schrecken zu durchbrechen?
Die Schweiz müsste sich stärker als neutraler Staat ins Spiel bringen, der seine guten Dienste anbietet. Sie tut das viel zu wenig.
Damit kritisieren Sie Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis. Was sollte er konkret tun?
Er sollte sich an 2014 und 2015 zurückerinnern. Damals war Aussenminister Didier Burkhalter Bundespräsident. Zusammen mit Topdiplomatin Heidi Tagliavini und anderen bildete er ein hervorragendes Team und die Schweiz hat massgeblich zur damaligen Lösung beigetragen. Natürlich hatte er den Vorteil, dass die Schweiz damals noch das Präsidium der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) besetzte. Die OSZE gibt es immer noch. Cassis oder andere Bundesräte, die schon Kontakt mit Wladimir Putin hatten, müssten versuchen, über diese Kanäle Verbindung aufzunehmen auch mit Russland – um aktiv nach Lösungen zu suchen.
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Sie sagen damit indirekt, Cassis fokussiere zu stark auf Ukraines Präsident Wolodimir Selenskyj?
Cassis hatte ungeschickte Auftritte. Etwa auf dem Bundesplatz, als er während einer Demonstration Präsident Selenskyj sehr kumpelhaft begrüsste, der live zugeschaltet wurde. Auch die Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine im Juli in Lugano kann missverstanden werden. Sie ist wichtig. Es ist aber heikel, wenn aus dieser Konferenz eine reine Solidaritätskundgebung für die Ukraine wird und auf der anderen Seite keinerlei Gespräche mit Russland geführt werden. Damit könnte die Schweiz noch mehr ihre Rolle als neutrale Vermittlerin verlieren. Schon am World Economic Forum (WEF) waren die Auftritte zu einseitig. Wenn die Schweiz eine diplomatisch wichtige Rolle spielen will, muss sie das ändern.
Eigentlich hatte die Schweiz hervorragende Voraussetzungen: 2021 brachte sie Putin und US-Präsident Joe Biden in Genf zusammen.
Das war ein Coup. Seither ist die Schweiz zu wenig präsent. Bei Verhandlungen müsste sie ja nicht nur Russland ins Boot holen. Auch die USA müssen früh eingebunden werden in einen möglichen Kompromiss. Es fragt sich schon, weshalb die Schweiz ihre Kontakte nicht stärker nutzt. Zudem sollte die Öffentlichkeit spüren, dass die Schweiz eine Rolle spielen will. Doch das ist nicht der Fall.
Kommt Cassis schlicht nicht mehr an Putin heran? Weil die Schweiz auf Russlands Liste «feindlicher» Staaten steht, seit sie die EU-Sanktionen übernahm?
Ich habe Hinweise, dass die Schweiz zu wenig tat und gewisse Chancen nicht packte.
An welche Chancen denken Sie?
An die Chance, als der russische Aussenminister Sergej Lawrow Ende Februar vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf eine Rede halten wollte. Weil die EU den Luftraum sperrte, kam er nicht und sprach per Zoom zum Rat. Dass die Schweiz da nicht versuchte, einen direkten bilateralen Kontakt herzustellen, ist ein grosses Versäumnis. Der Faden zu Russland riss immer mehr, weil die Schweiz den Kontakt zu wenig aktiv suchte. Natürlich kann es sein, dass im Hintergrund mehr läuft. Doch ich bezweifle das. Wir alle sind stark emotional berührt und das kann den Blick aufs Ganze trüben.
Diese Emotionalisierung für die Ukraine erfasste auch den Bundesrat?
Auch er wurde beeinflusst von dieser Stimmungslage – wie wir alle. Dieser Angriffskrieg war für mich ein riesiger Schock. Ich war sicher, dass Putin dies nicht tut, weil es ein kapitaler Fehler ist. Er wird ihm selbst und dem Land schaden. Immer wieder bombardiert Putin gezielt Infrastrukturen und Städte. Lange Zeit bombardierte er auch bewusst zivile Ziele, um die Bevölkerung der Ukraine einzuschüchtern und es gab Menschenrechtsverletzungen. Das ist eine Kriegstaktik, die ich verurteile. Für diesen Krieg gibt es nullkommanull Prozent Rechtfertigung. Das alles führte zu dieser verständlichen Emotionalisierung. Mein Herz schlägt klar für die Ukraine. Aber gerade deshalb möchte ich für die Ukraine den Frieden, da der Krieg die Menschen immer mehr traumatisiert und täglich sinnlose Opfer fordert.
Wo sehen Sie einen Ausweg?
Am wichtigsten ist, dass die Ukraine auf die Nato-Mitgliedschaft verzichtet. Wenn die USA, die EU und die Ukraine nicht immer wieder damit gespielt hätten die letzten Jahre, wäre dieser Krieg vermeidbar gewesen. Eine neutrale Ukraine ist der Ausweg. Dafür braucht es aber Sicherheitsgarantien. Die Ukraine wird Putin zu Recht nicht mehr vertrauen. Russland gab ihr 1994 Sicherheitsgarantien dafür, damit diese ihre Atomwaffen abgibt. Putin brach diese Garantie schon 2014 und jetzt aufs Gröbste. Deshalb wird die Ukraine sehr stark bewaffnet bleiben.
Soll sie Gebiete abtreten – wie Henry Kissinger sagt?
Sie wird ernsthaft darüber nachdenken müssen. Henry Kissinger ist ein weiser Mann, der vernetzt denken kann. Man wird offen über einen neuen Status der beiden separatistischen Republiken Luhansk und Donetz reden müssen, für die im Minsker Abkommen II eine gewisse Autonomie ausgehandelt wurde. Auch für die Krim muss man eine völkerrechtlich akzeptierte Lösung finden. Sie wurde illegal annektiert – trotzdem müsste die Ukraine kompromissbereit sein.
Wie soll Russland aus diesem Krieg herauskommen?
Eine sehr schwierige Frage. Für Putin wäre es aber ein wesentlicher Erfolg, wenn die Ukraine nicht der Nato beitritt.
Denken Sie, das genügt Putin?
Ich glaube, Putin ist auch offen für Verhandlungen – er hat sicher verstanden, dass er mit dem Angriffskrieg einen fatalen Fehler begangen hat. Er weiss auch, dass ihn die Wirtschaftssanktionen und die Isolation treffen und die Bevölkerung leidet. Sie ist zwar sehr leidensfähig, aber nicht ewig.
Wie soll Putin selbst aus dieser Sache herauskommen?
Er muss letztlich ohne Gesichtsverlust aus der Sache kommen, aber er darf auch nicht belohnt werden für den Angriffskrieg.
Also soll er vors Kriegstribunal kommen?
Mir geht es damit um die Gebiete. Es kann nicht sein, dass Putin die Gebiete um Cherson, Mariupol und andere einfach behalten kann, weil er sie besetzt hat. Das ist kein akzeptabler Weg. Hier muss Putin nachgeben und die Grenzen vor dem 24. Februar akzeptieren, um dafür die Krim zu erhalten und eine Lösung für die beiden Republiken zu finden.
Was tun Sie selbst im Hintergrund?
Ich bin an verschiedenen Fronten tätig. Hauptteil bildet die humanitäre Hilfe in der Ukraine mit Green Cross Schweiz.
Sie sind aber auch diplomatisch aktiv?
Natürlich versuche ich mein Netzwerk einzusetzen. Wenn es gelingt, gewisse Kontakte herzustellen, die dann die offiziellen Stellen weiterführen, wäre das super. Grundsätzlich erwarte ich aber, dass die offiziellen Stellen mehr tun.
Versuchen Sie, Putin und Selenskyj persönlich an einen Tisch zu bringen?
Wenn ich diese Möglichkeit hätte, würde ich es tun. Ich bin aber leider nur ein kleiner Nationalrat mit gewissen Beziehungen in die Ukraine und Kontakten nach Russland. Zu Putin habe ich leider keinen Draht. Der Bundesrat hat ganz andere Möglichkeiten. Klar ist aber, dass man einfach zu wenig miteinander spricht.
An wen denken Sie da?
Die EU muss sich mehr von den USA emanzipieren. Europa leidet unter diesem Krieg massiv und ein baldiger Frieden ist auch im Interesse der EU. Italien hat zaghafte Versuche gemacht, aber alles wirkt wenig koordiniert. Und hier setzt eben meine Erwartung an den Bundesrat an: Die Schweiz muss ihre aktive Neutralität wieder massiv mehr ausspielen und das Ziel eines Friedensabkommens zuoberst auf ihre Agenda setzen statt über Waffenlieferungen zu debattieren und sich treiben zu lassen. Wir dürfen das Feld des Verhandelns nicht einzig Herrn Erdogan überlassen, der noch eine eigene Agenda hat. Besser als eine Task Force zum Aufspüren und Einzug von Oligarchengeldern wäre eine Task Force für die Etablierung eines Friedensplans. Da hätte die Schweiz gute Leute.
Zum Beispiel?
Ich denke an Experten wie Heidi Tagliavini. Oder auch an Alt-Bundesrat Didier Burkhalter. Sie kennen Putin persönlich. Man müsste sie fragen, ob sie bereit wären, Mitglieder zu sein in einer Task Force, die Gespräche führt und nach Lösungen sucht – weil das vielleicht nicht die ganz grosse Stärke von Cassis ist.
Ihre Frau ist Ukrainerin. Fliegen da ab und an die Fetzen, weil Sie sich so neutral geben?
Wir sind uns nicht immer einig. Mit meiner neutralen Rolle komme ich tatsächlich nicht immer gut an. Einig sind wir uns aber darin, dass man einen Weg zum Frieden suchen muss. (aargauerzeitung.ch)
Sie wird ernsthaft darüber nachdenken müssen.
Bin ich anderer Meinung. Putin kriegt eine dicke Hose, wenn man ihm die Krim und den Donbass feierlich übergibt. Als nächstes wird er geil aufs Baltikum.
2014/15 wurde der Konflikt durch die neutrale Schweiz massgeblich beendet? Was für ein Träumer und Phantast ist das denn? Wenn 2014/15 eines gezeigt hat, das der Westen uneins war und verhandeln mit Raubtieren und soziopathen bestenfalls einen kurzen Frieden bringt. Dieser Krieg ist erst dann zu Ende wenn Russland Lissabon eingenommen hat oder Russland keinen Krieg mehr führen kann. Die Neutralität wird Putin nicht hindern Zürich oder Bern in Trümmer zu legen. Genauso wenig wie Ukraineische Städte.