Olga Burlutska und Janine Rüfenachts Umgang ist vertraut. Und das, obwohl sie nicht die gleiche Sprache sprechen. Die beiden Frauen sitzen in der Cafeteria der Hotelfachschule Thun. Wenn die Brocken Englisch und Deutsch nicht ausreichen, hilft eine App bei der Übersetzung.
Anfang März flüchtete die 41-jährige Burlutska zusammen mit ihrem Sohn und weiteren Familienmitgliedern aus Kiew in die Schweiz. Etwa zum gleichen Zeitpunkt fasste sich Rüfenacht, Vizedirektorin der Hotelfachschule Thun, ein Herz.
«Ich habe die vielen Aufrufe auf Facebook gelesen. Alle suchten nach einer Bleibe. Wir mussten einfach helfen», erinnert sich Rüfenacht. Im März stand die Hotelfachschule Thun, die selbst ein Hotel und Serviced Apartments betreibt, praktisch leer. Die Entscheidung war schnell gefällt. Kurze Zeit später bezogen Burlutska, ihr sechsjähriger Sohn und acht andere Geflüchtete aus der Ukraine die Apartments.
Fast drei Monate sind seither vergangen. Burlutska und ihre Verwandten haben wie fast 54'000 andere Ukrainerinnen und Ukrainer den Schutzstatus S erhalten. Burlutska arbeitet unterdessen im Zimmerservice des Hotels. Ihr Sohn besucht den nahegelegenen Kindergarten.
Doch die Bleibe in den Serviced Apartments ist zeitlich begrenzt. Diese Woche zogen Burlutska und ihr Sohn in ein Zimmer des Studierenden-Wohnheims ein. Bis Mitte Juni werden aber auch die Wohnheime an Hotelgäste vermietet.
Könnte Rüfenacht Burlutskas Familie weiter beherbergen, würde sie das tun. «Aber ich bin auch dafür verantwortlich, dass das Hotel gut wirtschaftet. Und wir haben harte Monate hinter uns.»
Verzweifelt sucht Rüfenacht deshalb nach einer Wohnung für die Grossfamilie. Sie schreibt Posts auf Facebook, telefoniert mit den Behörden, hört sich bei Bekannten um.
Aber die Suche ist kompliziert. Weil Burlutska weiterhin im Hotel arbeiten will und ihr Sohn bereits in den Kindergarten geht, suchen sie nach einer Unterkunft in der Nähe. Aber der Thuner Wohnungsmarkt ist ausgetrocknet. Und eine Gastfamilie, die sechs Personen gleichzeitig aufnimmt, sei schwierig zu finden.
Ultima Ratio sei ein Asylheim, sagen beide Frauen. Aber auch das würde wohl bedeuten, dass Burlutska nicht mehr arbeiten, ihr Sohn nicht mehr in den Chindsgi gehen könnte. Denn die Asylunterkunft in der Nähe ist bereits voll. Andere Asylheime wären zu weit weg und abgelegen. Kommt hinzu, dass die Geflüchteten seit Ende Mai selbst für die ÖV-Tickets aufkommen müssen.
«Ich weiss bis heute nicht, wo sie nächste Woche hingehen», sagt Rüfenacht. Vielleicht fände sich doch noch irgendwo eine Wohnung. Eine Person, die Platz für ein paar Personen hätte. «Ich kann aber nachvollziehen, dass man als Vermieterin oder Vermieter zurückhaltend ist, den Geflüchteten eine Wohnung zu vermieten. Wir wissen alle nicht, was in drei Monaten ist und ob sie dann noch hier sind.»
Auch Burlutska zuckt nur mit den Schultern. Vor einer Asylunterkunft fürchtet sie sich. Zurückzukehren in die Ukraine ist für sie aktuell auch keine Option. «Ich gehe, wenn keine Bomben mehr fallen und der Krieg vorbei ist», sagt sie. Natürlich hoffe sie auf ein baldiges Ende. «Mein Bauchgefühl sagt mir aber, dass mein Sohn in der Schweiz zur Schule gehen wird.»
Während sich Vizedirektorin Rüfenacht in Thun den Kopf über eine Zweitunterkunft zerbricht, ist es neben dem Bundesasylzentrum in Bern ruhig.
Thomas Studer steht vor einem Seiteneingang des alten Ziegelspitals. Dort, wo sich seit Mitte März Tausende von Geflüchteten aus der Ukraine für den Schutzstatus S registrieren lassen. «Noch vor wenigen Wochen standen die Geflüchteten bis auf die Strasse Schlange», sagt Studer und führt ins Innere des Gebäudes.
Im Auftrag der Schweizerischen FLüchtlingshilfe (SFH) kümmert sich Studer um die Unterbringung der Geflüchteten in Schweizer Gastfamilien. Anfang März wurde er dafür von Caritas Schweiz extra aus dem Ruhestand geholt. Mit seiner langjährigen Projekterfahrung war er der richtige Mann für die komplexe Aufgabe. Innerhalb von vier Tagen musste Studer ein Team und eine funktionierende Infrastruktur auf die Beine stellen. «Mehr Zeit hatten wir nicht. Am 12. März kamen bereits die ersten Geflüchteten aus der Ukraine.»
Studer und sein Team arbeiten eng mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) zusammen. Das SEM kümmert sich um den Registrierungsprozess im vorderen Teil des alten Spitals, die SFH ist in den hinteren Räumen angesiedelt.
Wer für die Unterbringung in einer Gastfamilie geeignet ist, kommt zu Studer und seinem Team. Dort kümmern sich Vermittler- und Übersetzerinnen um die Unterkunft. Sie rufen bei den Gastfamilien an und fragen, ob das Angebot noch stehe.
«Die Anfangszeit war sehr intensiv», sagt Studer. Pro Vermittlung hatte sein Team knapp eine Stunde Zeit. Danach musste für die Geflüchteten die passende Gastfamilie gefunden sein. Sobald die Vermittlung erfolgreich ist, liegt alles Weitere in der Verantwortung des jeweiligen Kantons respektive der Gemeinde.
«Das funktioniert mal besser, mal schlechter», sagt Studer. Viele Gemeinden oder Kantone würden sich weder um die Geflüchteten, noch um die Gastfamilien kümmern. Andere wiederum verhielten sich vorbildlich. «Typisch Föderalismus», sagt er.
Für viele Gastfamilien sei die Aufnahme der Geflüchteten eine Bereicherung, so Studer. Bei einigen gibt es Schwierigkeiten. «Wenn die Vorstellung vom Zusammenleben unterschiedlich sind oder wenn man sich beim Kochen, Essen oder bei der Erziehung nicht findet, dann wird es schwierig.»
1800 Unterkünfte und Gastfamilien hat Studers Team via der Campax-Plattform bereits vermittelt. In kleinen Schubladen fein säuberlich abgelegt und beschriftet warten zahlreiche weitere vorab geklärte Beherbergungsmöglichkeiten. Viele davon bleiben vorerst ungenutzt.
Denn sobald die Geflüchteten bei einer Gastfamilie sind, sind die Kantone in der Pflicht, allfällige Zweitunterkünfte zu suchen. Dann können Studer und sein Team eigentlich nicht mehr weiterhelfen.
Und genau diese Suche nach der Zweitunterkunft wird in den kommenden Wochen zunehmend zur Herausforderung werden. Denn viele Gastfamilien verpflichteten sich, die Geflüchteten für drei Monate aufzunehmen. Diese Zeit neigt sich bald dem Ende zu.
Einige Kantone befürchten, dass sie deswegen plötzlich zahlreiche Geflüchtete in Kollektivunterkünften unterbringen müssen. Doch für sehr viele ukrainische Familien, wie jene von Burlutska in Thun, ist ein Asylheim keine Option.
Und auch Thomas Studer von der SFH hält Kollektivunterkünfte nicht für die beste aller Lösungen. «Wir haben positive Erfahrungen mit den Gastfamilien gemacht. Sie können sehr viel zur Integration beitragen und bei vielen Problemen unterstützen, wo die Geflüchteten in einer Kollektivunterkunft womöglich auf sich allein gestellt wären.»
So bleibt vielen ukrainischen Geflüchteten nichts anderes übrig, als sich auf eigene Faust auf Wohnungssuche zu machen. Davon zeugen die zahlreichen Facebook-Beiträge in der Gruppe «Switzerland with Ukraine». Denn vorerst sieht es nicht so aus, als würde der russische Angriffskrieg ein baldiges Ende nehmen.