Ärzte und Pfleger kämpfen gegen Masern, Tuberkulose und Polio, zudem ächzt das Gesundheitssystem unter der Pandemie. Dann bricht ein Krieg aus. Dieses Schreckensszenario ist mitten in Europa Realität geworden. Zusätzlich zu den vielen Opfern des Kriegs in der Ukraine könnten bald noch mehr vermeidbare Todesfälle kommen, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO).
«Das ukrainische Gesundheitssystem befindet sich in einem unvorstellbaren Stresstest», sagt WHO-Sprecher Bhanu Bhatnagar zu t-online. Es müsse aktuell gleich drei Krisen gleichzeitig bewältigen: den Krieg, die Corona-Pandemie und einen Ausbruch von Polio, auch bekannt als Kinderlähmung. «Jetzt bringt die neue humanitäre Notlage ein ohnehin schon angeschlagenes Gesundheitssystem weiter ins Wanken», analysiert er aus dem westukrainischen Lwiw.
Bereits seit Jahren hat die Ukraine mit Infektionskrankheiten zu kämpfen, die in anderen Ländern Europas kaum noch eine Rolle spielen. Dazu zählen zum Beispiel Masern und Tuberkulose. Nach WHO-Angaben erkranken jedes Jahr rund 32'000 Menschen in dem Land an der Krankheit.
Gerechnet auf 100'000 Einwohner kommen in der Ukraine 73 Tuberkulose-Infektionen – in der Schweiz sind es im Jahresschnitt nur etwa sechs. In der Ukraine ist zudem der Anteil der medikamentenresistenten Infektionen mit etwa einem Drittel sehr hoch.
Bei etwa 22 Prozent der ukrainischen Tuberkuloseerkrankten liegt ausserdem eine Infektion mit HIV vor – 350'000 Menschen in der Ukraine tragen das immunschwächende HI-Virus in sich. Tuberkulose ist in der Ukraine eine der häufigsten Todesursachen unter HIV-Infizierten, Mediziner sprechen auch von der «doppelten Epidemie».
Auch deswegen sei es so wichtig, dass die Betroffenen ihre Medikamente regelmässig einnähmen, erklärt Bhatnagar – beim Ausharren in umkämpften Gebieten oder auf der Flucht sei das aber oft kaum möglich.
Aufgrund des Krieges sind in der Ukraine nach WHO-Angaben aktuell die Hälfte aller Apotheken geschlossen, rund 1000 Einrichtungen des Gesundheitssystems befinden sich in umkämpften Gebieten oder in unmittelbarer Nähe. Mehr als 100 Angriffe auf das Gesundheitssystem zählen die Vereinten Nationen bereits.
#Ukraine:"As of yesterday, WHO has verified 108 incidents of attacks on health care.At least 72 people have been killed & 51 injured.Over the coming days, @WHO will be providing 15 generators to hospitals that have limited or no power supply." -- @bhanu_bhatnagar@WHO_Europe⤵️ pic.twitter.com/6BAL5yum5L— UN Geneva (@UNGeneva) April 12, 2022
Anfang April konnte ein Mangel an HIV-Medikamenten durch Lieferungen der WHO und des Aids-Nothilfeplans des Präsidenten der Vereinigten Staaten (PEPFAR) abgewendet werden. Die Behandlung dieser Patienten ist somit theoretisch sichergestellt.
In anderen Bereichen herrsche ein Mangel, berichtet WHO-Sprecher Bhatnagar: «Es fehlt an grundlegenden medizinischen Gütern wie Verbandsmaterial, Mull, medizinischem Sauerstoff, sogar an grundlegenden Medikamenten, und an Medikamenten zur Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes.»
Normalerweise sei die Versorgung kein Problem. Aber aktuell sei man insbesondere in den umkämpften Gebieten im Osten des Landes ernsthaft besorgt: Die Kriegsopfer in der Zivilbevölkerung seien das eine. «Aber wenn die Kämpfe noch länger andauern, kann es auch zu vermeidbaren Opfern kommen, die auf die fehlende Gesundheitsversorgung und den Mangel an Medikamenten zurückzuführen sind», sagt er.
Das ukrainische Gesundheitssystem habe sich sehr widerstandsfähig gezeigt und in den letzten Jahren gute Fortschritte gerade bei der Behandlung von HIV und Tuberkulose gemacht, erzählt Bhatnagar. Das Land sei «ein Aushängeschild für Gesundheitsreformen» gewesen – bis zum Krieg. «Früher oder später wird das Gesundheitssystem zusammenbrechen», prognostiziert er.
Ein Kollaps des Gesundheitssystems, schlechte Hygienebedingungen. Und die Vereinten Nationen berichten bereits jetzt, dass sechs Millionen Menschen der Zugang zu sauberem Trinkwasser fehlt. Dazu gibt es ein weiteres Problem: «Die Impfraten in der Ukraine liegen unter dem Durchschnitt», erklärt Bhatnagar. Durch diese Kombination rechnet er mit Ausbrüchen von Infektionskrankheiten wie Cholera, Diphterie und Masern.
2020 lag die Impfquote gegen Masern in der Ukraine bei 82 Prozent – die WHO empfiehlt mindestens 95 Prozent. Immer wieder hat das Land mit grösseren Ausbrüchen zu kämpfen.
Auch gegen Polio liegt die Impfquote mit 87 Prozent zu niedrig. Daher war die Aufregung um zwei gemeldete Fälle von Kinderlähmung im vergangenen Jahr gross. Eigentlich gilt Europa seit 2002 als poliofrei. Obwohl die Infektionen nun schon etliche Monate her sind, wird die Ukraine von der WHO-gestützten Initiative zur Ausrottung von Polio jedoch noch immer als vom Poliovirus betroffener Staat gelistet.
Auch hier kommt der Krieg der Bekämpfung des Ausbruchs in die Quere: Normalerweise werden alle Kinder mit Lähmungserscheinungen auf Polio getestet. Die zwei ukrainischen Labore in Kiew und Odessa können jedoch aktuell nicht arbeiten, die Proben warten eingefroren auf ihre Untersuchung. Ob die Ukraine poliofrei ist, kann niemand mit Gewissheit sagen.
Die WHO startete nach dem Ausbruch eine Impfkampagne, bei 140'000 Kindern sollte die Polioimpfung nachgeholt werden. Dann kam der Krieg – rund 60'000 haben bisher eine Impfung erhalten, in einigen Landesteilen musste die Kampagne unterbrochen werden.
Und dann ist da noch die Pandemie: Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine den Höhepunkt der Omikron-Welle gerade hinter sich. Bhanu Bhatnagar berichtet, für Covid-Patienten stünden nun weniger Kapazitäten in den Krankenhäusern zur Verfügung. Allerdings sei auch die Zahl der Patienten zurückgegangen. Dies könne an der geringeren Krankheitsschwere unter der Omikron-Variante liegen, aber auch daran, dass in den Kriegsgebieten vermutlich weniger Menschen Hilfe in Anspruch nehmen oder nehmen können.
Bekannt sei aber, dass die ukrainische Bevölkerung durch das Coronavirus stark gefährdet sei, so Bhatnagar. Nur etwa 40 Prozent der Menschen seien geimpft. Insbesondere in den vulnerablen Gruppen, wie Menschen über 60 Jahren, sei die Impfquote niedrig.
Das führt er auch auf die Sowjetvergangenheit des Landes zurück: «Vermutlich herrscht in der Bevölkerung ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Gesundheitssystem und gegenüber Impfungen.» So liesse sich auch die Ausbreitung von Masern oder Tuberkulose erklären: Das in der Vergangenheit schwache Gesundheitssystem sei «ein perfekter Nährboden für Infektionskrankheiten» gewesen.
Dass ukrainische Geflüchtete solche Krankheiten mit in ihre Aufnahmeländer bringen, sei zwar möglich. Bhatnagar schränkt jedoch ein: «Ich glaube nicht, dass wir uns per se Sorgen machen sollten.»
Die WHO rate Aufnahmeländern wie der Schweiz dazu, die Überwachung von Infektionskrankheiten aufrechtzuerhalten und gegebenenfalls zu verstärken – auch, wenn sonstige Corona-Massnahmen aufgehoben werden. Zudem sei es wichtig, ukrainischen Geflüchteten Impfungen zum Beispiel gegen Polio, Masern oder das Coronavirus anzubieten, wenn sie diese noch nicht erhalten haben.
Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP
Ähnlich war es auch bei der "Spanischen Grippe":
Die Menschen waren vom 1.Weltkrieg und der ganzen damit zusammenhängenden Not und Entbehrung so geschwächt, dass ihre Immunsysteme den Viren nichts entgegenzusetzen hatten.
Ganz allgemein sollte man mehr "vernetzt" denken!
Ein Unglück kommt selten allein.
Zum Glück ist es ja mit dem Glück auch so!
zu Selenski und den Klitschkos gesellen sich MIllionen von mutigen und tapferen Freiheits-Held*innen!
Venceremos!