«Marshall-Plan 2.0»: So soll die Ukraine nach dem Krieg wiederaufgebaut werden
Seit dem 24. Februar tobt der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Niemand kann voraussehen, wie lange die Zerstörung und das Leid andauern werden. Dennoch haben Ökonominnen und Ökonomen skizziert, wie die Ukraine nach Ende des Krieges wiederaufgebaut werden soll. Vor einer Woche hat das Centre for Economic Policy Research (CEPR) ihren Plan, den «Blueprint for Reconstruction», publiziert.
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Nach Kriegsende werde sich die Ukraine in einer ähnlichen Situation befinden wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945. Davon geht die CEPR-Studie aus. Deshalb solle man sich beim Wiederaufbau am Marshall-Plan von 1948 orientieren. Gleichzeitig sei man sich bewusst, dass man die Situation nicht abschliessend vorhersehen kann. Damit der Plan trotzdem umsetzbar ist, mussten die Autorinnen gewisse Annahmen über den Zustand der Nachkriegs-Ukraine treffen. Das sind die wichtigsten:
- Die Ukraine ist nicht geteilt oder behält zumindest einen grossen Teil ihrer Territorien.
- Die Staatsverschuldung ist hoch, die Haushaltsdefizite werden weitgehend über Auslandshilfe und die Zentralbank finanziert.
- Die Ukraine hat Sicherheitsgarantien, sodass eine weitere russische Invasion nicht stattfinden kann.
- Obwohl die Ukraine in naher Zukunft nicht EU-Mitglied sein wird, wird sie auf dem Weg sein, es zu werden, indem sie etwa zumindest die institutionellen und makroökonomischen Anforderungen eines Landes mit Kandidatenstatus erfüllt.
Zu den führenden Autorinnen des Wiederaufbauplans «Blueprint for Reconstruction» gehört die Basler Wirtschaftswissenschaftlerin Beatrice Weder di Mauro.
So viel sei gesagt zum Hypothetischen. Im praktischen Teil stellen die Autoren einen Zeitplan auf:
- Phase null, während der Besetzung: den Schaden minimieren
- Phase eins, in den ersten sechs Monaten: schnelles Handeln
- Phase zwei, in den Monaten 3 bis 24: Belebung der Wirtschaft und Infrastruktur
- Phase drei, undefiniert: Fundament für die Zukunft
An erster Stelle steht die humanitäre Hilfe sowie technische und logistische Unterstützung: Wasser, Essen, Medizin, Hygieneartikel, Strom, Unterkünfte. Das passiert zum Teil jetzt schon, soll aber gegen Kriegsende und nach Abzug der russischen Truppen sofort intensiviert werden.
Schnell zu handeln sei entscheidend, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, heisst es. Da scheint man aus dem Marshall-Plan gelernt zu haben: Drei Jahre mussten nach dem Zweiten Weltkrieg vergehen, bevor dieser einsetzte.
Was die CEPR-Studie weiter konkret vorschlägt, erfährst du hier:
Getreidekammer Europas stärken
Ist die Nothilfe gewährleistet, soll die Wirtschaft gestärkt werden. Besonders der Agrarsektor spielt für die Ukraine eine grosse Rolle. Das Land wird häufig als «Kornkammer Europas» bezeichnet. Der Anbau, die Ernte, die Lagerung und der Transport von Getreide soll unterstützt werden, indem die Unternehmen Hilfe wie Material und Maschinen erhalten.
Weiter sollen Transportkorridore für den Handel und Hilfsgüter geschaffen werden. Ausserdem müsse es in den europäischen Nachbarländern spezielle Wirtschaftszonen geben, in denen ukrainische Flüchtlinge und Unternehmen die Chance haben, zu arbeiten.
Beim Marshall-Plan machte in den ersten Nachkriegsjahren besonders die Grundversorgung den Bärenanteil aus. Die CEPR-Autoren vermuten, dass dies bei der Ukraine anders sein wird: Die Hälfte der Landesfläche kann für Getreideanbau beackert werden. Dadurch könne sich der Staat gut selber versorgen.
Entsprechend könne der Wiederaufbau von Häusern, Fabriken, Energieversorgung und Infrastruktur schnell vorangetrieben werden. Während der ersten Phase sei essenziell, dass der Weltwährungsfonds für finanzielle Notfallhilfen sorgt, die Preisstabilität gewährleistet und verhindert, dass die ukrainische Landeswährung Hrywnja weiter abstürzt.
Wo das Geld herkommen soll
Der Wiederaufbau der Ukraine wird teuer. Die CEPR-Ökonominnen schätzen, dass er zwischen 200 Milliarden und 2 Billionen Dollar kosten dürfte. Zum Vergleich: Die ganze Schweiz erwirtschaftet in einem Jahr 748 Milliarden USD (BIP 2020).
Für die Frage, wie das Geld zusammenkommen soll, listet die Studie unterschiedliche Finanzquellen auf wie die Weltbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau (EBRD) oder auch bilaterale Abkommen mit europäischen Partnerländern und den United Nations sowie der EU selber. Auch private Spender hätten inzwischen ein grosses Ausmass erreicht.
Weiter wird vorgeschlagen, einen Strafzoll auf russische Exporte zu erheben und diese Einnahmen in den Wiederaufbau fliessen zu lassen. Das Gleiche soll mit einem Teil des eingefrorenen russischen Vermögens passieren.
Wo das Geld herkommt, wird eine Prinzip-Frage sein: Auf keinen Fall dürften russlandfreundliche Mitglieder der geldgebenden Institutionen einen Einfluss auf das Hilfsprogramm haben, heisst es.
Da sich die Ukraine keine weiteren Schulden leisten könne, müsse wie im Marshall-Plan die Hilfe aus Darlehen und Garantien anstatt Krediten bestehen. So könne man eine Schuldenkrise vermeiden.
Überwacht aber eigenständig
Die Organisation des Wiederaufbaus sei die noch grössere Herausforderung als die Kosten, heisst es. Die Hilfe für die Ukraine sollte durch eine neue, eigenständige Wiederaufbau-Behörde koordiniert werden. Sie müsse von der EU autorisiert und unabhängig von einzelnen Staaten sein.
Gleichzeitig müsste sich diese Behörde eng mit der ukrainischen Regierung abstimmen. Die Autoren halten fest, dass es enorm wichtig sei, dass sich die Ukraine mit den Projekten des Programms identifizieren könne. Kiew soll die Bedürfnisse und Interessen der einzelnen Regionen bewerten und einbringen können.
«Build back better»
Die Ukraine soll nicht bloss wieder aufgebaut, sondern verbessert werden. Die Bausteine: modernisieren, liberalisieren, der EU beitreten und die Relikte aus der Sowjet-Zeit verabschieden.
Die zerstörten ukrainischen Städte sollen beim Wiederaufbau gleich neu entstehen und mit modernisierten Bauten und Verkehrssystemen ausgerüstet werden. Ein besseres Verkehrsnetz innerhalb der Ukraine mache das Land unabhängiger vom Seeweg. Die Blockade der russischen Marine habe gezeigt, wie abhängig die Ukraine vom Wasserweg ist.
Auch die Energieversorgung soll nicht mehr die gleiche sein. Die Ukraine müsse künftig komplett auf fossile Energien aus Belarus und Russland verzichten können. Der Plan ist, dass das Land Teil des europäischen Strom- und Gasnetzes wird.
Nach dem Vorbild von Polen sollen die ukrainischen Märkte liberalisiert und die wirtschaftliche und politische Macht dezentralisiert werden. Auch ist vorgesehen, dass die beiden grössten Banken der Ukraine privatisiert werden.
Weiter soll die Ukraine der EU beitreten. Das erleichtere den Zufluss des ausländischen Kapitals. Die Studie schlägt vor, dass die Wiederaufbau-Behörde ihre Arbeit in dem Moment beenden könnte, in dem die Ukraine der EU beitrete.