Die ukrainische Staatsführung hat nach zwischenzeitlicher Verärgerung über die ausgebliebene Einladung in die Nato ein positives Fazit des Bündnis-Gipfels in Vilnius gezogen. «Es gibt eine gute Verstärkung bei den Waffen. Das sind Flugabwehr, Raketen, gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie», sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwochabend in seiner täglichen Videoansprache über die Lieferzusagen westlicher Partner. Zudem habe die Ukraine nun feste Sicherheitsgarantien und die klare Perspektive eines Nato-Beitritts erhalten. Russlands Aussenminister Sergej Lawrow warf dem Westen vor, mit der Lieferung moderner Kampfjets an die Ukraine eine atomare Bedrohung für Russland zu schaffen.
Die Ukraine sei von ihren Unterstützern als Gleicher unter Gleichen behandelt worden, betonte Selenskyj nach der Abreise aus Vilnius in seiner im Zugabteil aufgenommenen Rede. Die Sicherheitsgarantien der G7-Gruppe westlicher Wirtschaftsmächte seien das Fundament für bilaterale Abkommen mit den stärksten Nationen. Zugleich schien er demonstrativ dem Ratschlag des britischen Verteidigungsministers zu folgen, der von ihm weniger Kritik und mehr Dankbarkeit gegenüber westlichen Regierungen für deren Waffenhilfe gefordert hatte. So bedankte sich Selenskyj bei allen Nato-Ländern einzeln. Deutschland etwa lobte er für die Zusage von weiteren Luftabwehrsystemen, die in der Vergangenheit bereits Tausende Leben gerettet hätten.
Zuvor hatten die G7-Staaten der Ukraine langfristige militärische und finanzielle Hilfe zugesichert, solange sie noch kein Nato-Mitglied ist. Die USA, Deutschland und die fünf anderen Staaten der G7 stellen der Ukraine unter anderem moderne Ausrüstung für deren Luft- und Seestreitkräfte in Aussicht. Eine entsprechende Erklärung wurde zum Abschluss des Nato-Gipfels am Mittwochnachmittag unterzeichnet.
Russlands Aussenminister Sergej Lawrow schoss sich sogleich auf die westlichen Kampfflugzeuge und insbesondere die geplante Lieferung von F-16-Jets an die Ukraine ein. «Die USA und ihre Nato-Satelliten schaffen das Risiko einer direkten militärischen Auseinandersetzung mit Russland und das kann katastrophale Folgen haben», sagte Lawrow dem russischen Internetportal lenta.ru. Man könne nicht ignorieren, dass die F-16-Kampfjets, die der Westen an die Ukraine liefern wolle, potenziell Atomwaffen tragen können, so der russische Chefdiplomat. «Allein den Fakt des Auftauchens solcher Systeme bei den ukrainischen Streitkräften werden wir als atomare Bedrohung vonseiten des Westens betrachten», sagte Lawrow. Zugleich wies er zurück, dass Russland einen Atomschlag in der Ukraine plane.
Lawrows Ministerium warf der Nato die Rückkehr «zu Schemen des Kalten Kriegs» vor. In einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums von Mittwochabend hiess es, dem Westen gehe es um den Schutz seiner Bevölkerung «vor dem Rest der Menschheit» auf der Grundlage der willkürlichen Teilung der Welt in Demokratien und Autokratien. Um seine globale Hegemonie zu schützen, habe der Westen Russland als Hauptziel seiner aggressiven Politik auserkoren. «Alles verdrehend wird Moskau der Unterminierung der globalen Energie- und Lebensmittelsicherheit beschuldigt», so die Kritik.
Von der strategischen Niederlage Russlands träumend baue die Nato an den russischen Grenzen offensive Waffensysteme auf und führe Manöver zum Einstudieren von Angriffen durch. Die Ukraine solle dabei als Rammbock dienen, werde deswegen mit leeren Versprechungen und Waffen gefüttert, sei für den Westen jedoch nichts weiter als «Verbrauchsmaterial», behauptete das russische Aussenministerium.
Um die von Moskau zitierte Lebensmittelsicherheit zu gewährleisten, will UN-Generalsekretär António Guterres das auslaufende Abkommen mit Russland zum Export von ukrainischem Getreide retten. In einem Brief machte er Russlands Präsident Wladimir Putin einen Vorschlag, um die Absichtserklärung vom letzten Jahr mit der Fortführung der Exporte in Einklang zu bringen. «Ziel ist es, Hürden für Finanztransaktionen über die Russische Landwirtschaftsbank zu beseitigen, ein wichtiges Anliegen der Russischen Föderation, und gleichzeitig den weiteren Fluss ukrainischen Getreides durch das Schwarze Meer zu ermöglichen», erklärte UN-Sprecher Stephane Dujarric am Mittwoch.
Derweil hat die Privatarmee des Söldnerchefs Jewgeni Prigoschin nach offiziellen Angaben massenhaft schwere Waffen, Militärgerät und Tausende Tonnen Munition ans russische Verteidigungsministerium übergeben. Darunter seien Panzer vom Typ T-90 und T-80, Mehrfachraketenwerfer und zahlreiche Artilleriesysteme, sagte ein Ministeriumssprecher am Mittwoch. Zudem habe die Wagner-Armee 2500 Tonnen Munition sowie 20 000 Schusswaffen abgegeben.
Die Wagner-Kämpfer hatten in Russlands seit Februar 2022 laufendem Angriffskrieg gegen die Ukraine immer wieder Gebiete im Nachbarland erobert, darunter die Stadt Bachmut. Im vergangenen Monat zettelte Prigoschin jedoch einen Aufstand gegen Moskau an, den er erst kurz vor einer unkontrollierbaren Eskalation abbrach.
Wie Prigoschin machte auch der Oberbefehlshaber der im Süden der Ukraine stationierten russischen 58. Armee, Iwan Popow, der eigenen Militärführung schwere Vorwürfe - und wurde nach seinen Angaben deshalb entlassen. Popow wandte sich in einer am Mittwoch auf dem Telegram-Kanal des Duma-Abgeordneten Andrej Guruljow verbreiteten Sprachnachricht an die Soldaten und erklärte, er sei wegen Kritik an der ineffizienten Kriegsführung seines Postens enthoben worden. «Ich habe die Aufmerksamkeit auf die grösste Tragödie des modernen Kriegs gelenkt - auf das Fehlen der Artillerieaufklärung und -bekämpfung und die vielfachen Toten und Verletzten durch die feindliche Artillerie.» Danach habe sich das Verteidigungsministerium seiner entledigt.
Popow, dessen Armee im südukrainischen Gebiet Saporischschja kämpfte, liess kein gutes Haar an seinen Vorgesetzten:
Zuvor hatten andere Telegram-Kanäle berichtet, Generalstabschef Waleri Gerassimow habe Popow als «Panikmacher» bezeichnet und ihn abgelöst.
Die Entlassung und Kritik Popows fügen sich in das Bild, das Militärexperten gut 16 Monate nach Beginn des von Kremlchef Putin befohlenen Angriffskriegs von der russischen Armee zeichnen. Demnach sind grosse Teile der Streitkräfte unzufrieden mit der eigenen Militärführung und deren geschönten Lageberichten. Auch der am Ende missglückte Aufstand der lange für Moskau kämpfenden Wagner-Armee richtete sich explizit gegen Verteidigungsminister Sergej Schoigu, dem Söldnerchef Prigoschin Korruption und Unfähigkeit vorwarf.
Die Ukraine setzt die Grossoffensive zur Befreiung ihrer Gebiete von der russischen Besatzung im Osten und im Süden des Landes fort. Russlands Truppen leisten weiter Widerstand entlang der befestigten Verteidigungslinien an der Front. (saw/sda/dpa)