Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine beschlossen Finnland und Schweden das zuvor Undenkbare: Sie wollten dem nordatlantischen Verteidigungsbündnis NATO beitreten. Einer aber legte sich quer: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan blockierte das Gesuch der Nordeuropäer. Sie täten zu wenig gegen kurdische «Terroristen».
Bei den Finnen gab er im Frühjahr nach: Sie durften als 31. Mitglied der NATO beitreten. Im Fall von Schweden aber blieb Erdogan knallhart. Noch vorletzte Woche, kurz vor dem NATO-Gipfel im litauischen Vilnius, sah es schlecht aus für die Skandinavier. Die Verbrennung eines Korans in Stockholm hatte den türkischen Staatschef erzürnt.
Am Montag präsentierte er eine weitere Forderung: die Belebung der «eingefrorenen» EU-Beitrittsgespräche. Nun schien der Karren endgültig im Dreck zu stecken, doch am Abend folgte die Überraschung: Nach einem Treffen mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und dem schwedischen Regierungschef Ulf Kristersson gab Erdogan seinen Widerstand auf.
Einen Tag vor Beginn des Gipfels konnte die Allianz damit einen unerwarteten Erfolg verbuchen. «Er zog in den Krieg, weil er weniger NATO wollte. Er bekommt mehr NATO», meinte Stoltenberg an die Adresse des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Die Frage, warum Erdogan auf einmal eingelenkt hatte, liess jedoch viele Beobachter rätseln.
Denn viel erhalten hat der türkische Präsident bei genauer Betrachtung nicht. Zwar sicherte Schweden eine verstärkte Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung zu, doch ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union bleibt auf absehbare Zeit illusorisch. Das weiss auch Erdogan. Er kann allenfalls mit Zugeständnissen in einzelnen Bereichen rechnen.
Dazu gehören ein Update der Zollunion mit der EU, Erleichterungen bei der Visavergabe oder eine Verlängerung des für die Türkei lukrativen Flüchtlingsdeals. Erdogan selbst soll diese Punkte beim kurzfristig angesetzten Treffen mit EU-Ratspräsident Charles Michel am Montag vorgebracht haben. Konkrete Zusagen aber erhielt er keine.
Gleiches gilt für den Kauf von 40 F-16-Kampfjets. US-Präsident Joe Biden sicherte seinem türkischen Kollegen zu, sich beim Kongress in Washington dafür einzusetzen. Den F-35, das derzeit modernste Kampfflugzeug, wird Erdogan jedoch nicht bekommen. Diese Option hat er sich mit der Beschaffung des russischen S-400-Flugabwehrsystems selbst verbaut.
Für Recep Tayyip Erdogan aber geht es um Grundsätzliches. Seit einiger Zeit und auch nach Kriegsbeginn lavierte er zwischen Russland und dem Westen. Ein positiver Effekt war das Getreideabkommen mit der Ukraine, das unter seiner Ägide ausgehandelt wurde. Tendenziell aber zeigte der türkische Staatschef eine Neigung in Richtung Moskau.
Die Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und Russland gebe «Anlass zu grosser Sorge», schrieb der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell im letzten Dezember in einem Brief an das EU-Parlament. Erdogan selbst traf sich seit Kriegsbeginn mehrfach mit Wladimir Putin und ging demonstrativ auf Distanz zum NATO-Partner in Washington.
Seine eigentliche Kehrtwende ist denn auch nicht die Freigabe des schwedischen NATO-Beitritts, sondern die erneute Hinwendung zum Westen. Am letzten Freitag hatte er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Istanbul empfangen und Moskau mit der Aussage verärgert, die Ukraine habe «die NATO-Mitgliedschaft zweifellos verdient».
Beobachter orten dafür mehrere Gründe: Offenbar hält Erdogan seinen «Freund» Putin nicht mehr für einen verlässlichen Partner, erst recht nicht seit dem mysteriösen Putschversuch von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. Während er ein besseres Verhältnis zum Westen braucht, vor allem wegen der seit Jahren anhaltenden Wirtschaftskrise in der Türkei.
«Erdogan will nach seiner Wiederwahl aus der Isolation heraus, was ihm durch das Schweden-Spiel gelingen könnte», schreibt die linke Berliner «taz». Ein nicht namentlich genannter EU-Beamter brachte es gegenüber der «Financial Times» auf den Punkt: «Erdogan geht es nur um die Wirtschaft.» Das gelte auch im Fall von Schwedens Nato-Mitgliedschaft.
«Wir treten in eine neue Ära der türkisch-westlichen Beziehungen ein», sagte Murat Yesiltas, Direktor einer Erdogan-nahen Denkfabrik, dem Londoner Wirtschaftsblatt. Nach seiner Wiederwahl im Mai wolle der Präsident seine Aussenpolitik neu kalibrieren. Tatsächlich bemüht sich das Wirtschaftsteam des Präsidenten aktiv um Investitionen aus den USA und Europa.
Die Wirtschaft werde in den Beziehungen zum Westen «das Thema Nummer eins» sein, sagte Yesiltas. Was aber auch bedeutet, dass es sich um ein reines Zweckbündnis handelt und nicht um eine Liebesheirat. Doch Recep Tayyip Erdogan, der nach seinem Wahlsieg weiter fest im Sattel sitzt, ist im Gegensatz zu Wladimir Putin ein schlauer Taktiker.
Er wird sich weiter um gute Beziehungen mit Russland bemühen. Sein Ziel bleibe es, die Türkei als wichtigen Player auf der regionalen und globalen Bühne zu etablieren, schreibt die «Financial Times». Das Verhältnis zum Westen aber hat für ihn derzeit Priorität, und da kann es nicht schaden, den Weg für den Beitritt Schwedens zur NATO freizumachen.
Ja hoffentlich auch nicht! Warum soll er für die Zustimmung, die jeder andere NATO-Partner diskussionslos gab, etwas erhalten?
Erdi kann froh sein das er nach dem Kauf des russischen S-400-Flugabwehrsystems nicht aus der NATO geworfen wurde!
Ob er oder die Türkei auch so Europa annähert kann bezweifelt werden.