Am Montag kündigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an, er habe sich mit seinen Top-Generälen beraten und man sei zu einer Einigung gekommen. Sowohl der Oberbefehlshaber der Armee, Valeriy Saluschnyi, als auch der Kommandant der Bodentruppen, Olexandr Syrsky, sprachen sich für eine Fortsetzung der Verteidigung Bachmuts aus.
Damit setzten sie ein klares Zeichen gegen die Gerüchte, die sich im Netz verbreitet hatten, dass ein baldiger Rückzug der Ukraine aus Bachmut bevorstehe. Wie die New York Times berichtete, gingen mehrere ukrainische Brigaden übers Wochenende in die Offensive und konnten die russischen Truppen scheinbar etwas zurückdrängen. Selenskyj sagte dazu in seiner allabendlichen Videobotschaft:
Weiter berichtet die «New York Times», dass die ukrainische Strategie nun daraus bestehe, Russland weiterhin in Bachmut abzunutzen, um anschliessend anderswo besetztes Gebiet befreien zu können. Die Ukraine argumentiere, dass die hohen Verluste auf eigener Seite gerechtfertigt seien. Die ukrainischen Soldaten vor Ort zweifeln jedoch je länger je mehr am Festhalten an der Stadt.
Reporter der unabhängigen ukrainischen Zeitung Kiyv Independent konnten sich mit mehreren Soldaten, die in Bachmut kämpfen, unterhalten. Ihre Berichte von der Front sind erschütternd – und ernüchternd.
So erzählt Infanterist Serhiy, dass er und seine Kameraden teils stundenlang von Schützenpanzern und Mörsern beschossen würden, und niemand unternehme etwas dagegen.
Mit Unterstützung meint Serhiy eigentlich: Mörserfeuer, Panzer, Schützenpanzer, Drohnen. Aber diese Mittel kommen eben nicht, während die russischen Kräfte scheinbar im Überfluss davon haben. Das Unverständnis auf ukrainischer Seite sei gross, sagt Serhiy. Besonders an Schützenpanzern mangle es:
Illia kann eine dieser Fragen zumindest teilweise beantworten. Der Mann ist Mörserkanonier und gehört zur 3017ten Einheit der ukrainischen Nationalgarde. Auch er ist bei Bachmut im Einsatz. Er erzählt dem «Kyiv Independent», wo auf seiner Seite die Probleme liegen:
Und als wäre das nicht schon problematisch genug, sind die Mörser selbst komplett veraltet. Sie stammen, so Illia, aus den Jahren 1938 bis 1943 und seien komplett unzuverlässig. Damit etwas zu treffen, grenze an ein Wunder; mit genügend Munition könnte man dies aber wettmachen. Mit zehn Schuss pro Tag sei das aber Wunschdenken.
Auch Mörserkanonier Mykola erzählt dem «Kiyv Independent», dass zu wenig Munition vorhanden sei. Die Vorräte aus sowjetischer Produktion gingen zur Neige, deshalb würde man vermehrt Granaten mit NATO-Standard verwenden – trotz der uralten Mörser. Als die Gefechte sich noch um Soledar drehten, habe man Granaten im Überfluss gehabt, aber hier in Bachmut klappe es nicht mit der Logistik. Kein Wunder, mittlerweile wurde die letzte geteerte Zufahrtsstrasse in die Stadt durch russische Artillerie unpassierbar gemacht.
Alle vom «Kiyv Independent» befragten Soldaten sind sich in einem Punkt einig: Die Neuankömmlinge in Bachmut sind viel zu schlecht vorbereitet auf die Situation. Manche von ihnen hätten gerade einmal gelernt, wie man mit dem Gewehr umgeht. In nur zwei Wochen würden die frischen Soldaten minimal trainiert, bevor sie direkt an die Front geschickt werden. Die Veteranen vor Ort würden sich aber lieber ein mehrmonatiges Training wünschen.
Man hatte Serhiy gesagt, er werde nicht direkt an die vorderste Front kommen, er werde zuerst etwas zurückgestaffelt stationiert. Und dann habe man ihn mitten in der Nacht hierher verfrachtet, direkt nach Bachmut.
Die meisten der kämpfenden Brigaden seien mangelhaft vorbereitet. Die Soldaten hätten selten die nötige Ausbildung für die harten Gefechte Bachmuts. Ein anderer Serhiy, etwas jünger, sagt dazu:
Die Folge daraus: eine erschreckende Zahl an Verwundeten und Gefallenen. Das Bataillon, in dem Boris, ein Einsatzsanitäter, eingeteilt ist, wurde im Dezember nach Bachmut geschickt. Bestand zu diesem Zeitpunkt: rund 500 Mann. Jetzt sieht die Situation anders aus: «Letzten Monat waren wir gerade noch gut 150», sagt Boris. Infanterist Serhiy pflichtet ihm bei:
Aber auch aufseiten der Angreifer sieht es nicht mehr so rosig aus wie auch schon. Während Jewgenyi Prigoschin, Chef der Söldnertruppe «Wagner», vor einigen Tagen noch die «bevorstehende Einkesselung» Bachmuts prophezeite, beklagte er sich am Montag via soziale Medien über fehlende Munition. Seine eigenen Truppen liefen nun Gefahr, eingekesselt zu werden, sollte tatsächlich ein ukrainischer Gegenangriff stattfinden.
Der interne Machtkampf bei den russischen Kräften spitzt sich zu. Prigoschin, der in der Vergangenheit mehrfach über die Inkompetenz des Verteidigungsministeriums und der Armeeführung gewettert hatte, berichtete auch, dass am Montag dem Wagner-Stellvertreter der Zugang zum militärischen Hauptquartier der Region verweigert worden sei.
Für die russischen Soldaten selber ist die Lage in Bachmut auch sehr prekär. Die Taktik ihrer Befehlshaber ist grausam, aber effizient: Zuerst schicken sie einen kleinen, schlecht ausgerüsteten Stosstrupp (meist Ex-Sträflinge aus der Wagner-Gruppe) vor. Die ukrainischen Verteidiger eröffnen das Feuer und geben so ihre Position preis. Anschliessend wird diese mit Artillerie und direktem Unterstützungsfeuer zugeschossen, und erst dann kommen die «richtigen» Soldaten. Eben: grausam, aber effizient.