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Ukraine

Bachmut hält – aber die Moral ist bei den Ukrainern am Boden

Ukrainian soldiers in a trench under Russian shelling on the frontline close to Bakhmut, Donetsk region, Ukraine, Sunday, March 5, 2023. (AP Photo/Libkos)
Das Tauwetter und der damit verbundene Matsch trägt nicht zur guten Stimmung der Verteidiger bei.Bild: keystone

Bachmut hält – aber die Moral ist bei den Ukrainern am Boden

Präsident Wolodymyr Selenskyj will Bachmut um jeden Preis halten. Bei den eigenen Truppen stösst die Entscheidung auf Unmut: ein Bericht aus den Reihen der ukrainischen Soldaten.
07.03.2023, 20:1409.03.2023, 05:31
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Am Montag kündigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj an, er habe sich mit seinen Top-Generälen beraten und man sei zu einer Einigung gekommen. Sowohl der Oberbefehlshaber der Armee, Valeriy Saluschnyi, als auch der Kommandant der Bodentruppen, Olexandr Syrsky, sprachen sich für eine Fortsetzung der Verteidigung Bachmuts aus.

Damit setzten sie ein klares Zeichen gegen die Gerüchte, die sich im Netz verbreitet hatten, dass ein baldiger Rückzug der Ukraine aus Bachmut bevorstehe. Wie die New York Times berichtete, gingen mehrere ukrainische Brigaden übers Wochenende in die Offensive und konnten die russischen Truppen scheinbar etwas zurückdrängen. Selenskyj sagte dazu in seiner allabendlichen Videobotschaft:

«Ich habe den Oberbefehlshaber beauftragt, für die Situation angemessene Truppen zu suchen, um die Jungs in Bachmut zu unterstützen.»

Weiter berichtet die «New York Times», dass die ukrainische Strategie nun daraus bestehe, Russland weiterhin in Bachmut abzunutzen, um anschliessend anderswo besetztes Gebiet befreien zu können. Die Ukraine argumentiere, dass die hohen Verluste auf eigener Seite gerechtfertigt seien. Die ukrainischen Soldaten vor Ort zweifeln jedoch je länger je mehr am Festhalten an der Stadt.

Fehlende Unterstützung

Reporter der unabhängigen ukrainischen Zeitung Kiyv Independent konnten sich mit mehreren Soldaten, die in Bachmut kämpfen, unterhalten. Ihre Berichte von der Front sind erschütternd – und ernüchternd.

So erzählt Infanterist Serhiy, dass er und seine Kameraden teils stundenlang von Schützenpanzern und Mörsern beschossen würden, und niemand unternehme etwas dagegen.

«Wir beantragen Unterstützung, dann sagen sie uns, wir sollen uns gedulden, die Unterstützung komme in einer halben Stunde. Nach sieben Stunden ist dann immer noch nichts da.»

Mit Unterstützung meint Serhiy eigentlich: Mörserfeuer, Panzer, Schützenpanzer, Drohnen. Aber diese Mittel kommen eben nicht, während die russischen Kräfte scheinbar im Überfluss davon haben. Das Unverständnis auf ukrainischer Seite sei gross, sagt Serhiy. Besonders an Schützenpanzern mangle es:

«Gemäss der Doktrin der Armee müsste die Infanterie komplett mechanisiert sein – aber wo sind unsere Schützenpanzer? Wo sind unsere BMPs? Wo ist unsere Artillerie?»
Was ist mechanisierte Infanterie?
Wenn im militärischen Jargon von «mechanisiert» geredet wird, hat das nichts mit Mechanikern zu tun, sondern mit Panzern. Mechanisiert kann in diesem Sinne mit «gepanzert» gleichgesetzt werden.

Während Infanterie heutzutage fast überall motorisiert ist (also mit Lastwagen und Radschützenpanzern unterwegs), kämpft mechanisierte Infanterie aus Schützenpanzern wie dem russischen BMP, dem amerikanischen Bradley oder dem Schweizer CV90. Der Unterschied zum Radschützenpanzer: Schützenpanzer haben Raupen statt Räder und sind so mobiler im Gelände.

In der Schweiz wird der Begriff «mechanisiert» aus politischen Gründen vermehrt gebraucht: So wurde zum Beispiel 2018 aus der Panzerbrigade 11 die Mechanisierte Brigade 11, um weniger mit dem «Kriegswort Panzer» anzuecken.

Munition ist rares Gut

Illia kann eine dieser Fragen zumindest teilweise beantworten. Der Mann ist Mörserkanonier und gehört zur 3017ten Einheit der ukrainischen Nationalgarde. Auch er ist bei Bachmut im Einsatz. Er erzählt dem «Kyiv Independent», wo auf seiner Seite die Probleme liegen:

«Wenn wir die tägliche Munition von der Regierung geliefert bekommen, sind das etwa zehn Schuss 120mm-Granaten. Zehn Schuss! Das reicht etwa für eine Minute Feuer!»
FALTA 13, 28 FILE - Ukrainian servicemen fire a 120mm mortar towards Russian positions at the frontline near Bakhmut, Donetsk region, Ukraine, Wednesday, Jan. 11, 2023. (AP Photo/Evgeniy Maloletka, Fi ...
Ein ukrainischer 120mm-Mörser feuert eine Granate.Bild: keystone

Und als wäre das nicht schon problematisch genug, sind die Mörser selbst komplett veraltet. Sie stammen, so Illia, aus den Jahren 1938 bis 1943 und seien komplett unzuverlässig. Damit etwas zu treffen, grenze an ein Wunder; mit genügend Munition könnte man dies aber wettmachen. Mit zehn Schuss pro Tag sei das aber Wunschdenken.

Auch Mörserkanonier Mykola erzählt dem «Kiyv Independent», dass zu wenig Munition vorhanden sei. Die Vorräte aus sowjetischer Produktion gingen zur Neige, deshalb würde man vermehrt Granaten mit NATO-Standard verwenden – trotz der uralten Mörser. Als die Gefechte sich noch um Soledar drehten, habe man Granaten im Überfluss gehabt, aber hier in Bachmut klappe es nicht mit der Logistik. Kein Wunder, mittlerweile wurde die letzte geteerte Zufahrtsstrasse in die Stadt durch russische Artillerie unpassierbar gemacht.

Schlecht ausgebildete Soldaten werden verheizt

Alle vom «Kiyv Independent» befragten Soldaten sind sich in einem Punkt einig: Die Neuankömmlinge in Bachmut sind viel zu schlecht vorbereitet auf die Situation. Manche von ihnen hätten gerade einmal gelernt, wie man mit dem Gewehr umgeht. In nur zwei Wochen würden die frischen Soldaten minimal trainiert, bevor sie direkt an die Front geschickt werden. Die Veteranen vor Ort würden sich aber lieber ein mehrmonatiges Training wünschen.

Man hatte Serhiy gesagt, er werde nicht direkt an die vorderste Front kommen, er werde zuerst etwas zurückgestaffelt stationiert. Und dann habe man ihn mitten in der Nacht hierher verfrachtet, direkt nach Bachmut.

«Da drehst du natürlich durch. Ganz ehrlich, wenn die nicht zuerst auf mich geschossen hätten, hätte ich keinen Schuss abgegeben. Aber wenn Kugeln einen halben Meter neben dir einschlagen, schiesst du schnell zurück.»

Die meisten der kämpfenden Brigaden seien mangelhaft vorbereitet. Die Soldaten hätten selten die nötige Ausbildung für die harten Gefechte Bachmuts. Ein anderer Serhiy, etwas jünger, sagt dazu:

«Die hätten nicht alle einfach so hier reinwerfen sollen. Wen interessiert's, ob wir diese Ruinen verteidigen?»
Ukrainian military medics treat their wounded comrade at the field hospital near Bakhmut, Ukraine, Sunday, Feb. 26, 2023. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Ein verwundeter Soldat wird nahe Bachmut in einem Feldlazarett verarztet.Bild: keystone

Die Folge daraus: eine erschreckende Zahl an Verwundeten und Gefallenen. Das Bataillon, in dem Boris, ein Einsatzsanitäter, eingeteilt ist, wurde im Dezember nach Bachmut geschickt. Bestand zu diesem Zeitpunkt: rund 500 Mann. Jetzt sieht die Situation anders aus: «Letzten Monat waren wir gerade noch gut 150», sagt Boris. Infanterist Serhiy pflichtet ihm bei:

«Wenn du raus in deine Stellung gehst, hast du nicht einmal ein 50/50-Chance, dass du zurückkommst. Eher so 30/70.»

Auch Russland leidet

Aber auch aufseiten der Angreifer sieht es nicht mehr so rosig aus wie auch schon. Während Jewgenyi Prigoschin, Chef der Söldnertruppe «Wagner», vor einigen Tagen noch die «bevorstehende Einkesselung» Bachmuts prophezeite, beklagte er sich am Montag via soziale Medien über fehlende Munition. Seine eigenen Truppen liefen nun Gefahr, eingekesselt zu werden, sollte tatsächlich ein ukrainischer Gegenangriff stattfinden.

Der interne Machtkampf bei den russischen Kräften spitzt sich zu. Prigoschin, der in der Vergangenheit mehrfach über die Inkompetenz des Verteidigungsministeriums und der Armeeführung gewettert hatte, berichtete auch, dass am Montag dem Wagner-Stellvertreter der Zugang zum militärischen Hauptquartier der Region verweigert worden sei.

Für die russischen Soldaten selber ist die Lage in Bachmut auch sehr prekär. Die Taktik ihrer Befehlshaber ist grausam, aber effizient: Zuerst schicken sie einen kleinen, schlecht ausgerüsteten Stosstrupp (meist Ex-Sträflinge aus der Wagner-Gruppe) vor. Die ukrainischen Verteidiger eröffnen das Feuer und geben so ihre Position preis. Anschliessend wird diese mit Artillerie und direktem Unterstützungsfeuer zugeschossen, und erst dann kommen die «richtigen» Soldaten. Eben: grausam, aber effizient.

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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
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Traurige Szenen – die Heldengräber in der Ukraine
Ukrainische Soldaten begraben kurz nach Weihnachten 2023 ihren Kameraden Vasyl Boichuk im Dorf Iltsi.
quelle: keystone / evgeniy maloletka
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54 Kommentare
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Dominik Egloff
07.03.2023 20:47registriert November 2015
Wenn die Ukrainer in Bachmut gegen die riesige schwerbewaffnete Russische Armee und die Wagnersöldner nichts als ungepanzerte Fahrzeuge hat, ist das tödlich. Verantwortlich für den Tod dieser fast unbewaffneten Verteidiger der Freiheit sind auch wir, denn wir blockieren mit unserer Politik die Lieferungen einer Vielzahl von gepanzerten Fahrzeugen, es sind diejenigen, die vielen Ukrainern das Überleben ermöglicht hätten! Kein Wunder ist der ganze Westen schockiert über unseren kompletten Moralverlust der für eine nostalgische SVP Neutralität im wahrsten Sinne über Leichen geht.
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bossac
07.03.2023 20:51registriert Juni 2014
Auf eine zynische Art kann ich nachvollziehen, was die Ukrainische Führung hier für eine Strategie verfolgt, auch wenn mir die Expertise fehlt ob es die Sinnvollste ist. Menschlich gesehen ist einfach nur grausam und Leben, Individuen scheinen nur noch wie Zahlen in irgendeiner Statistik.

aber menschlich ist es einfach nur grausam
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John Galt
07.03.2023 21:01registriert November 2014
Aus der Sicht eines Soldaten ist die Situation tatsächlich erschreckend.
Die Ukrainer aber machen ihre Hausaufgaben; in den letzten 24h hat Russland 12 T-90 Kampfpanzer, 26 Artilleriegeschütze, diverse Truppentransporter, und ca. 1‘000 Soldaten verloren. Strategisch macht die Entscheidung Sinn.
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