Russland hat einen der schwersten Luftangriffe auf die Ukraine seit Kriegsbeginn vor mehr als zweieinhalb Jahren verübt. Polen hat wegen des massiven russischen Angriffs auf die Ukraine mit Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen Abfangjäger aufsteigen lassen. Wie das Führungskommando der polnischen Armee in Warschau auf Twitter mitteilte, wurden in der Nacht zu Sonntag zudem die Radaraufklärungssysteme und Bodenluftverteidigungssysteme in höchste Bereitschaft versetzt. Die ergriffenen Massnahmen zielten darauf ab, die Sicherheit in den Grenzbereichen zu gefährdeten Gebieten in der Ukraine zu gewährleisten, hiess es weiter.
Der Nato-Mitgliedstaat Polen lässt bei jedem grösseren Angriff auf den Westen der Ukraine Kampfjets aufsteigen. Dabei kommen wie in diesem Fall auch regelmässig Kampfflugzeuge von Nato-Partnern zur Unterstützung zum Einsatz.
Russland hatte die Ukraine mit etwa 120 Raketen und 90 Drohnen angegriffen. «Unsere Flugabwehr hat über 140 Luftziele zerstört», schrieb Präsident Wolodymyr Selenskyj bei Telegram. Es gab aber auch Tote und Verletzte sowie Schäden, vor allem einmal mehr an der Energieinfrastruktur des Landes.
In der ukrainischen Hauptstadt Kiew waren am Morgen mehrere von der Flugabwehr ausgelöste Explosionen zu hören. Behördenangaben zufolge gerieten zwei Wohnhäuser in Brand. Explosionen wurden auch aus Saporischschja, Dnipro, Krywyj Rih und Odessa gemeldet. Angaben der ukrainischen Luftwaffe zufolge sind Dutzende Marschflugkörper und ballistische Raketen unter anderem durch strategische Bomber auf Ziele im ganzen Land abgefeuert worden. Zuvor waren demnach bereits Dutzende Kampfdrohnen von Russland eingesetzt worden.
Insbesondere das ukrainische Stromnetz war dabei offenbar im Visier.
In mehreren Gebieten wurde als Vorsichtmassnahme der Strom abgeschaltet, um einer eventuellen Überlastung des Netzes vorzubeugen, sollten Energieanlagen getroffen werden. Der zuständige Minister Herman Haluschtschenko berichtete auf Facebook von einem massiven Angriff auf das Energiesystem der Ukraine.
Aussenminister Andrij Sybiha warf Kremlchef Wladimir Putin in dem Zusammenhang Kriegsverbrechen vor. Die Drohnen und Marschflugkörper seien gegen Städte, Infrastruktur und schlafende Zivilisten gerichtet. Dies sei «Putins wahre Antwort an all diejenigen, die ihn jüngst angerufen oder besucht haben. Wir brauchen Frieden durch Stärke, kein Appeasement», schrieb er auf Twitter.
Sein Tweet dürfte sich auch auf das Telefonat von Bundeskanzler Olaf Scholz mit Putin am Freitag beziehen. Das Telefonat hatte bereits kurz nach Bekanntwerden Kritik hervorgerufen, auch in der Ukraine. «Der Anruf von Olaf öffnet meiner Meinung nach die Büchse der Pandora», sagte der ukrainische Präsident Selenskyj noch in seiner Abendbotschaft am Freitag. Scholz habe mit seinem Anruf Putins langgehegten Wunsch erfüllt, Russlands Isolation zu verringern und mit Gesprächen zu beginnen, die zu nichts führen werden, begründete er.
Die ukrainischen Streitkräfte stehen in den kommenden Tagen und Wochen vor einer gewaltigen Aufgabe. Während sich in der von Ukrainern besetzten westrussischen Region Kursk eine Gegenoffensive Moskaus abzeichnet, müssen die ukrainischen Soldaten im Osten ihres Landes am Rande des Donbass weitere Rückschläge in Form von Gebietsverlusten hinnehmen.
Neben Tausenden Soldaten hat Nordkorea seinem Verbündeten Russland einem Medienbericht zufolge nun auch schwerste Artilleriegeschütze zum Kampf gegen die Ukraine zur Verfügung gestellt. So sollen in den vergangenen Wochen knapp 50 schwere Haubitzen auf Selbstfahrlafetten aus nordkoreanischer Produktion sowie knapp 20 Mehrfachraketenwerfer in Russland eingetroffen sein, wie die «Financial Times» unter Berufung auf gesicherte Quellen berichtete. Nordkoreas reichweitenstärkste Geschütze seien inzwischen in der Nähe von Kursk eingetroffen, um dort die russische Gegenoffensive gegen eingedrungene ukrainische Einheiten zu unterstützen. Die Haubitzen «Koksan», die vor einigen Tagen auf einem russischen Bahnhof gesichtet worden seien, haben eine Reichweite von bis zu 50 Kilometern.
Russland hat zur Gegenoffensive bei Kursk nach Erkenntnissen westlicher und ukrainischer Militärexperten bereits knapp 50'000 Soldaten zusammengezogen, unter ihnen auch über 10'000 nordkoreanische Kämpfer. Diese waren zuletzt in Russland weiter ausgebildet und mit russischen Uniformen und Waffen ausgestattet worden. Bei Kursk will das russische Militär Gelände zurückerobern, das ukrainische Truppen seit dem Sommer nach einem überraschenden Vorstoss über die Grenze besetzt halten.
Russland führt seit fast 1'000 Tagen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und hält knapp 20 Prozent des Gebiets des Nachbarlandes besetzt. Diese Gebietsgewinne wurden mit teils schweren Verlusten an Soldaten und Waffensystemen erkauft. Moskau wurde zuletzt massiv von Nordkorea unterstützt.
Unter dem massiven Druck der russischen Armee müssen sich die ukrainischen Truppen bei Kurachowe im Osten der Ukraine langsam zurückziehen. Präsident Wolodymyr Selenskyj bemühte sich in einem Radio-Interview, die Rückzugstaktik positiv zu beleuchten. «An der Front stehen Jungs, die müssen abgelöst werden, um sich zu erholen», sagte er. «Doch die anderen Brigaden, die nachrücken sollen, sind aber nicht voll ausgerüstet – sollte man sie jetzt so zum Abschlachten an die Front werfen, wie es die Russen tun?» Dies sei unmöglich.
Doch die Soldaten in den vordersten Frontlinien seien schwer unter Druck, bräuchten nach dem Bomben- und Granathagel dringend Erholung. «Sie fragen dann, ob sie sich zurückziehen dürfen, die Militärführung erlaubt das», erklärte Selenskyj die Rückzüge. «Denn unsere Position ist klar – an erster Stelle steht der Mensch, erst danach das Land.»
Das in der US-Hauptstadt Washington ansässige Institut für Kriegsstudien hat die aktuelle Frontlage in der Ukraine analysiert und beiden Kriegsparteien schlechte Positionen bescheinigt. Der für die Region zuständige Instituts-Vertreter George Barros bescheinigte den russischen Truppen erfolgreiche Vorstösse im Osten der Ukraine, mit denen Gegenangriffe der Ukrainer verhindert würden. «Man verliert Kriege, wenn man ständig in der Defensive ist», sagte er dem US-Sender CNN. Man werde in einer Ecke festgenagelt und habe dann nur eine Menü-Auswahl schlechter Optionen.
Allerdings bestätigte Barros auch den russischen Militärs Ineffizienz. Seit Jahresbeginn sei die russische Armee in der Ostukraine lediglich knapp 40 Kilometer vorgerückt, und das zu hohen Kosten an Soldaten und Material. Moskau habe nach Berechnungen seines Instituts bei Pokrowsk ungefähr den Gegenwert von fünf gepanzerten Divisionen verloren, also Hunderte von Panzern und Schützenpanzern. «Fünf Divisionen von Panzern und Schützenpanzern in einem Jahr zu verlieren und dabei nur 40 Kilometer vorzurücken, da muss man schon die grossen Schlachten des 21. Jahrhunderts zum Vergleich heranziehen, eventuell auch die grossen Schlachten des Zweiten Weltkriegs», sagte Barros. «Das ist schlicht eine wirklich schlechte Leistung.» (sda/dpa)
Für Putinisten gibt es zwischen Polen und der Ukraine keine relevanten Unterschiede, was die Ansprüche angeht. Die Krim, die Ostukraine und Polen wurden zur selben Zeit vom Zarenreich erobert und brutal kolonisiert.