1000 Verluste jeden Tag: Darum gehen Putin die Soldaten trotzdem nicht aus
Über eine Million Tote und Verwundete in fast vier Jahren Angriffskrieg: Kreml-Herrscher Wladimir Putin zeigt keine Spur von Bereitschaft, seine «Spezialoperation» in der Ukraine zu beenden. Ohne Rücksicht auf Verluste versucht die russische Armee, mit Schwerpunkt im Donbass, ihre bisherigen Geländegewinne auszubauen.
Ukrainische Schätzungen gehen derzeit von rund 1000 getöteten und verwundeten russischen Soldaten pro Tag aus – eine Folge der unablässigen Angriffe. Doch laut dem Putin-Vertrauten Dmitri Medwedew kann Russland jeden Monat 37'000 neue Vertragssoldaten rekrutieren.
Wie ist das möglich? Warum gehen dem Kreml trotz Strömen von Blut, miserabler Ausbildung und Misshandlung durch skrupellose Vorgesetzte die Soldaten nicht aus?
Für den stetigen Nachschub an Menschenmaterial sorgt vordergründig der Rubelregen, den Putin seit Februar 2022 über sein Reich ausschüttet. Bis zu 30'000 Franken Anstellungs-Bonus, mindestens 120'000 Franken im Todesfall für die Familie und ein Monatslohn von rund 2000 Franken – das sind gewaltige Anreize, vor allem für Freiwillige aus der verarmten Unterschicht.
Einer von Putins bisher wirkungsmächtigsten Schachzügen war, den Krieg in der Ukraine mit fürstlich bezahlten Vertragssoldaten zu führen; und nicht wie einst die Sowjets in Afghanistan mit jungen Wehrpflichtigen. Selbst für einen Autokraten wie ihn würde eine fortgesetzte Zwangsmobilisierung die Gefahr von inneren Unruhen und Protesten mit sich bringen.
Neue Verdienstmöglichkeit für Personalvermittlerinnen
Doch ebenso entscheidend ist, dass sich in Russland eine äusserst effektive Rekrutierungsindustrie etabliert hat, die mit raffinierten Methoden dafür sorgt, dass weiterhin genügend Männer ihre Unterschrift unter den Kriegsvertrag setzen.
In einer aufsehenerregenden Recherche hat das russische Exilmedium «Verstka» jüngst die Mechanismen dieses Systems offengelegt. In fast allen Regionen des Landes kooperieren Rekrutierungsämter eng mit staatlichen Betrieben, privaten Vermittlern und sogar Privatpersonen. Behörden erhalten monatliche Sollzahlen, die sie erfüllen müssen; oft, ohne dass die Rekruten wissen, dass sie Teil einer Quote sind.
Wer erfolgreich neue Soldaten vermittelt, kassiert Provisionen zwischen 50 und 4000 Franken pro Kopf. Selbst Beamte profitieren: Ein Lokalpolitiker aus Lipezk erhielt für die «Beschaffung» eines Mannes 530 Franken, wie «Verstka» herausfand.
Meist sind es weibliche Anwerberinnen, die in Telegram-Kanälen, Supermärkten und Bars gezielt sozial schwache Männer ansprechen: Arbeitslose, Alkoholkranke oder Verschuldete. Manche werben mit Kaffee und Brötchen vor der Musterung, andere mit Versprechen auf Sicherheit und Sonderkonditionen wie Urlaub alle sechs Monate, Einsatz fern der Front, Schuldenstreichungen oder kostenlose Ausbildung für Kinder.
Den so Angesprochenen – laut «Verstka» Menschen, die «noch nie ein freundliches Wort im Leben gehört haben» – wird kräftig Honig ums Maul geschmiert. Appelle an Patriotismus, Ehre und Familiensinn gehören zum rhetorischen Standardrepertoire: «Wer soll uns sonst verteidigen?», «Im Krieg kannst du dich von allen Sünden reinwaschen» oder:
Diese privaten Kriegsvermittlerinnen stammen oft aus dem Personalwesen. Eine Anwerberin namens Viktoria sagt zu «Verstka», sie verdiene bis zu 3200 Franken im Monat: «Das Verfahren ist einfach.» Sie erledige im Grunde dieselbe Arbeit wie zuvor als Headhunterin. An ihre «schwierige Kundschaft» hat sie sich längst gewöhnt. Viktoria vermittelt auch Männer mit Hepatitis, HIV oder Vorstrafen – Hauptsache, sie unterschreiben.
Gesellschaftliche Akzeptanz für den sinnlosen Tod
Andere wie Jelisaweta inszenieren sich als moralische Mittlerinnen, die mit Familien Kontakt halten oder Soldaten Geld schicken. Immer wieder werde sie von Angehörigen kontaktiert, die ihr Brüder oder Ehemänner anvertrauen wollen:
Drei von fünf ihrer Rekruten, gibt sie zu, kämen trotz gegenteiliger Zusagen an die Front. Viele verschwinden dann für immer.
Wie der russischsprachige BBC-Auslandsdienst berichtet, könnte der Geldregen in der Anwerbeindustrie bald versiegen, weil die klammen Regionen den vom Kreml auferlegten Anteil an den Prämiengeldern drastisch kürzen wollen. Doch das ändert nichts an der gesellschaftlichen «Akzeptanz des sinnlosen Todes», die laut dem exilrussischen Philosophen Nikolai Karpizki das Fundament für die Kriegsfortsetzung bildet. Da es in der russischen Bevölkerung kaum Mitleid mit Freiwilligen gebe, sei die Gesellschaft «unempfindlich gegenüber militärischen Verlusten».
Wie Karpizki im Info-Netzwerk «PostPravda» betont, garantiere «die arme Bevölkerung in strukturschwachen Gebieten den stetigen Zustrom von freiwilligen Kämpfern». Viele Russen sehen im Ukraine-Krieg die einzige Chance, dem sozialen Abgrund zu entkommen. Ein Kriegsende würde dagegen das Versiegen des Geldflusses bedeuten und ausserdem die Rückkehr Tausender potenzieller Straftäter von der Front. (aargauerzeitung.ch)
