Für einen Mann, der sich angeblich die Zerstörung der idyllischen amerikanischen Vorstädte auf die Fahne geschrieben hat, wohnt Joseph Biden in einem höchst feudalen Anwesen. Zwar lässt sich von der Barley Mill Road, einer schmucken Quartierstrasse ausserhalb von Wilmington (Delaware), kein Blick auf die 1998 erstellte Millionen-Villa des Präsidentschaftskandidaten erhaschen – beim Gästehaus am Eingang sind Sicherheitskräfte des Secret Service positioniert.
Aber Biden wäre nicht Biden, wenn er in der Vergangenheit nicht oft und gerne über seine geradezu innige Beziehung zu den zahlreichen Häusern gesprochen hätte, die er während seines langen Lebens besass. Und wie er an jedes Detail gedacht habe, vom Wintergarten bis zu den Büschen im Vorgarten.
«Schon als Kind in der High School wurde ich von Immobilien verführt», schrieb Biden in seiner Autobiografie, die 2007 publiziert wurde. Seine Schwester Valerie sagte einst: Hätte Joe es als Politiker nicht geschafft, dann wäre er wohl Architekt oder Landschaftsgärtner geworden. (Heute besitzt der Demokrat offiziell zwei Grundstücke: die Villa in Greenville und ein Strandhaus in Rehoboth Beach, Delaware.)
So abgeschirmt Biden zusammen mit seiner Gattin Jill auch leben mag. Bis zum Ausbruch der Coronapandemie war der langjährige Senator und Ex-Vizepräsident an seinem Wohnort ständig präsent. Fast jeder Bewohner der Kleinstadt – Wilmington hat bloss etwas mehr als 70000 Einwohnerinnen und Einwohner – kann eine Geschichte über eine mehr oder weniger zufällige Begegnung mit «Joe» erzählen.
Eine Frau sagt, sie sei Biden auf dem Parkplatz eines Möbelgeschäftes begegnet, als sie versucht habe, einen sperrigen Einrichtungsgegenstand in ihr Auto zu schieben. Natürlich habe er ihr seine Hilfe angeboten, sagt sie und lacht. Ein Mann erzählt, wie Biden sich in einer lokalen Imbisskette mit dem Namen «PureBread Deli» mit einem Sandwich eingedeckt habe. Und wie er sich darüber gewundert habe, wie stark der 77-Jährige gealtert sei.
In Delaware kursiert zudem die folgende Anekdote: Nach einem Gedenkgottesdienst sagt der eine Mann zum andern, er habe in der Kirche einen Trauernden gesehen, der ausgesehen habe wie Joe Biden. Der andere Mann antwortet: «Das war Joe Biden.» In einem kleinen Staat wie Delaware (Einwohnerzahl: 974000), in dem die Formulierung «jeder kennt jeden» wortwörtlich zu nehmen ist, gehört es zu den Pflichten eines Politikers, ständig in der Öffentlichkeit präsent zu sein.
Hinzu kommt, dass Biden den Kontakt mit den Wählerinnen und Wählern liebt, seien diese Besitzer eines Pizza-Restaurants oder Feuerwehrleute. «So ist Joe eben», sagt Jules Witcover, Journalismus-Urgestein und Verfasser der einzigen kritischen Biografie des Präsidentschaftskandidaten.
Und natürlich muss sich ein Politiker auch stets dafür einsetzen, dass er nicht in Vergessenheit gerät. Biden ist in dieser Kunst ein wahrer Meister. So wurde der Bahnhof von Wilmington im Jahr 2011 nach ihm benannt – eine gute Gelegenheit, um die Wählerinnen und Wähler daran zu erinnern, dass «Amtrak Joe», wie Biden scherzhaft genannt wird, ein leidenschaftlicher Zugfahrer war. Als Senator pendelte er mehr als 7000 Mal von Wilmington nach Washington und zurück.
Auch trägt ein Schwimmbad in der Kleinstadt den Namen Bidens. Das Joseph R. Biden Jr. Aquatic Center erinnert daran, dass Joe in jungen Jahren einen kleinen Beitrag zur Überwindung der Trennung zwischen Weissen und Schwarzen leistete – in dem er sich als Rettungsschwimmer in einem Schwimmbad meldete, das vor allem von Afroamerikanern besucht wurde.
Biden hat auch Kritiker, selbst in Wilmington. So sagt ein Republikaner, der vor Jahren als Amtrak-Kondukteur tätig war und sich heute um die Nomination zum Kandidaten für das nationale Repräsentantenhaus bemüht: Biden sei zwar ein anständiger Mann, er befinde sich aber unter der Knute des linksradikalen Flügels der Demokraten.
Wer schärfere Töne hören will, der muss den Kritikern Anonymität gewähren. Dann sagen sie, Biden habe nur deshalb politisch überlebt, weil der Ostküsten-Staat klein sei und Biden den «Delaware Way» beherrsche, wie das hier genannt wird: die Kunst, den politischen Gegner nicht zu stark vor den Kopf zu stossen, um die eigene Karriere nicht zu gefährden. Denn in Delaware, wie so oft, wenn sich die grosse Politik auf einer kleinen Bühne abspielt, spielen sich Demokraten und Republikaner in die Hände. Davon hat letztlich auch Wilmington profitiert.