Joe Biden lernt schnell. Als der amerikanische Präsident vor einigen Tagen das 52. präsidiale Dekret seit seinem Amtsantritt in Kraft setzte, wickelte er den offiziellen Teil der Zeremonie wie ein Roboter ab. An einem Tischchen im State Dining Room des Weissen Hauses sitzend, unterzeichnete Biden die wirtschaftspolitische Proklamation mit insgesamt sieben Stiften — die er dann den anwesenden Kabinettsmitgliedern als Erinnerungsstück weiterreichte.
Dann platzierte er noch ein Witzchen über seine offizielle Signatur («J.R. Biden, Jr.»), die es ihm, im Gegensatz zu Vor-Vorgänger Barack Obama ermögliche, dieses Ritual in die Länge zu ziehen. Dann verschwand Biden in den Gängen des Weissen Hauses.
Dieser Auftritt des Präsidenten war in zweierlei Hinsicht erstaunlich. Erstens löste er beim politischen Gegner fast keine Reaktionen aus. Vorbei sind die Zeiten, in denen Biden von den Republikanern in Washington beschuldigt wird, er verhalte sich wie ein Diktator — weil der Demokrat noch mehr Dekrete («Executive Orders») als sein Vorgänger unterzeichnete und damit angeblich gegen die Gewaltenteilung verstosse.
Und zweitens zeigt das Dekret mit der Nummer 14036 auch, wie sich der Pragmatiker Joe Biden in den ersten sechs Monaten seiner Amtszeit den neuen politischen Realitäten angepasst hat. Denn die präsidiale Anordnung ist in einem ausgesprochen populistischen Tonfall gehalten, als sei sie von seinen Ex-Konkurrenten Bernie Sanders oder Elizabeth Warren diktiert worden. Das Wirtschaftsblatt «The Wall Street Journal» zitierte den Präsidenten mit den feurigen Worten:
Solche Aussagen sind Wasser auf die Mühlen konservativer Meinungsmacher, die behaupten: Biden sei bloss eine Marionette linker Demokraten und im Weissen Haus zögen Einflüsterer wie der langjährige Biden-Berater Steve Ricchetti die Strippen. (Eine aktuelle Umfrage des konservativen Meinungsforschungsinstituts Trafalgar Group zeigt: Mehr als 80 Prozent der republikanischen Wählerinnen und Wähler sagen, diese Theorie entspreche der Wahrheit.)
Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte. So stimmt es, dass Biden in den ersten Tagen seiner Amtszeit eine «Executive Order» nach der anderen unterzeichnete. Mit diesen Dekreten, über die er häufig im Wahlkampf gesprochen hatte, kassierte er aber in erster Linie administrative Entscheidungen seines Vorgängers.
Gleichzeitig sanktionierte Biden überparteiliche Verhandlungen im Senat und Repräsentantenhaus, weil er der Meinung ist, dass die wirklich gewichtigen Vorhaben seiner Regierung von der Legislative genehmigt werden müssten — und nicht auf dem Verordnungsweg verabschiedet werden können. Seit Wochen feilschen Demokraten und Republikaner deshalb über die Details eines millionenschweren Infrastruktur-Pakets. Auch laufen nach der gewaltsamen Tötung von George Floyd im Frühjahr 2020 Verhandlungen über eine Reform der Vorschriften, an die sich Polizistinnen und Polizisten im Dienst halten müssen.
Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse in den beiden Kammern des Kongresses — im Senat herrscht ein Patt zwischen Demokraten und Republikanern, der nur mittels Stichentscheid von Vizepräsidentin Kamala Harris überwunden werden kann — allerdings stocken diese überparteilichen Gespräche. Links gibt es Widerstände gegen allzu grosse Zugeständnisse an die Republikaner. Auf der politischen Rechten wiederum ist die Bereitschaft, Biden zu einem Erfolg zu verhelfen, gering. Dafür verantwortlich ist primär Ex-Präsident Trump, der seine Partei unter der Knute hält und immer noch behauptet, die Demokraten hätten ihn im vorigen Jahr um seinen Wahlsieg gebracht.
Auch deshalb behält sich Biden die Option vor, künftig noch mehr «Executive Orders» zu unterzeichnen. Nach fast 50 Jahren in Washington weiss der altgediente Politiker: Dekrete bewirken manchmal Wunder, kann das Weisse Haus doch mit Hilfe einer Verordnung das Parlament unter Druck setzen. Zur Lösung komplexer Probleme, mit denen sich Biden zum Beispiel in der Einwanderungspolitik oder in der Bekämpfung des Coronavirus konfrontiert sieht, eignen sie sich aber nur selten. (saw/ch media)