Mit der permanenten Erinnerung «Es ist die Wirtschaft, Dummkopf» hat Bill Clinton seinerzeit das Weisse Haus erobert. Der Spruch ist mehr als eine Legende, er ist gewissermassen ein Dogma geworden, welches besagt: Brummt die Wirtschaft, dann kannst du die politischen Sorgen vergessen.
Die amerikanische Wirtschaft brummt derzeit wie noch selten. In der Biden-Ära sind durchschnittlich jeden Monat rund 600’000 Jobs geschaffen worden. Im laufenden und im nächsten Jahr soll das Bruttoinlandprodukt um mehr als sechs Prozent zulegen, eine Wachstumsrate, wie wir sie sonst nur von China kennen. «It’s Morning in Joe Biden’s America», jubelt daher «New York Times»-Kolumnist und Nobelpreisträger Paul Krugman.
Führt somit eine blühende Wirtschaft dazu, dass eine bitter entzweite Nation allmählich wieder zusammenfindet? Weit gefehlt. Ein halbes Jahr nach dem Sturm auf das Kapitol sind die USA politisch so zerstritten wie kaum je zuvor. Ja, sie sind im Begriff, zu einem «failed state» zu werden.
Janan Ganesh spricht in der «Financial Times» von «Wohlstandsverwahrlosung» und stellt die rhetorische Frage: «Die USA sind etwa ein Drittel reicher als Grossbritannien. Aber welche Wahlen 2024 machen dir mehr Bauchschmerzen? Das Pro-Kopf-Einkommen der Amerikaner ist höher als dasjenige der Deutschen. Doch welche Demokratie wird wohl Mitte dieses Jahrhunderts in besserem Zustand sein?»
Ein halbes Jahr nach dem Sturm auf das Kapitol ist dieses Trauma alles andere als verdaut. Der 6. Januar hat tiefe Wundern in der Psyche der Amerikanerinnen und Amerikaner hinterlassen. Ebenso ist die Suche nach den Tätern noch im vollen Gange. Mehr als 500 Aufständische sind zwar angeklagt. Trotzdem hat das FBI ein weit gespanntes Netz ausgeworfen, um die bisher noch nicht gefassten Aufständischen zur Rechenschaft zu ziehen. «Sie werden sie finden», sagt Robert Anderson, ein hoher ehemaliger FBI-Beamter in der «Washington Post.» «Egal, wie lange es dauern wird. Sie werden sie finden.»
Gegen den erbitterten Widerstand der Republikaner hat derweil das Abgeordnetenhaus beschlossen, eine Untersuchungskommission zur Abklärung des Sturms auf das Kapitol einzusetzen. Sie soll Licht in die vielen noch ungelösten Fragen bringen, Fragen wie: Wie organisiert war der Sturm aufs Kapitol? Wer hat wann was gewusst? Haben einzelne Politiker gar mitgeholfen? Und natürlich: Wie hat sich Präsident Trump an diesem fatalen Tag verhalten?
Die Republikaner geben sich alle nur erdenkliche Mühe, die Ereignisse des 6. Januars zu verharmlosen. Andrew Clyde, ein Abgeordneter aus Georgia, verglich den Mob gar mit gewöhnlichen Touristen. Wie absurd dies ist, zeigt ein von der «New York Times» meisterhaft zusammengestelltes Video, welches den Ablauf der Ereignisse detailliert aufzeigt.
Die Proud Boys, die Oath Keepers und die Three Percenters spielten beim Sturm auf das Kapitol eine zentrale Rolle. Diese paramilitärischen Verbände – viele ihrer Mitglieder sind Veteranen oder ehemalige Polizisten – gaben den Takt des Aufstandes vor.
Milizen haben in den USA lange Tradition. Die Historikerin Kathleen Belew zeigt in ihrem Standardwerk «Bring the War Home», wie die moderne Version dieser Milizen nach wie vor von der Niederlage im Vietnamkrieg geprägt ist. Die Wut auf den Verrat der eigenen Regierung und der Hass auf Kommunisten bilden den Nährboden dieser gewaltbereiten Gruppen. Die «Turner Diaries», ein obskurer Roman, welcher einen rechtsradikalen Terroristen verherrlicht, bildet das ideologische Rückgrat.
Belew beschreibt die geistige Verfassung dieser Milizen wie folgt: «Es ist eine Allianz von Steuerverweigerern, radikalen Abtreibungsgegnern, Veteranen, Rassisten, Identitäts-Christen, Survivalists, Verschwörungstheoretikern und solchen, die glauben, die US-Regierung sei zu mächtig geworden.»
Die Gewaltbereitschaft dieser Milizen ist gross. Am 19. April 1995 explodierte in einem Amtshaus in Oklahoma City eine Bombe, welche mehr als 500 Menschen tötete. Gezündet hatte sie ein gewisser Timothy McVeigh. Er wollte mit diesem Anschlag einen neuen Bürgerkrieg auslösen, der im Sieg der weissen Rasse enden sollte.
Dieser Plan wird in den «Turner Diaries» im Detail geschildert. McVeigh gab zwar an, als Einzeltäter gehandelt zu haben, wahrscheinlich eine Notlüge. 2001 wurde er hingerichtet. Sein Gedankengut jedoch lebt weiter. Wie McVeigh sehnen sich die Milizen nach einem Bürgerkrieg, der die Macht der weissen Rasse sichern soll.
Diesen Traum hegen auch die Anhänger von QAnon. «Es ist mehr als eine Verschwörungstheorie. Es ist ein Ticket in der ersten Reihe zum Endspiel zwischen Gut und Böse», schreibt Mike Rothschild in seinem Buch «The Storm is Upon Us». «Und wenn der letzte Vorhang fällt, müssen die Bösen mit brutaler Effizienz eliminiert werden.»
QAnon ist keine Partei mit eingeschriebenen Mitgliedern. Daher ist es unmöglich anzugeben, wie viele Anhänger der Kult tatsächlich hat. Jüngste Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass gegen 15 Prozent der Mitglieder der republikanischen Partei an die absurden Verschwörungstheorien von Q glaubt.
Donald Trump glaubt, dass er im August wieder ins Weisse Haus zurückkehren wird. Das wird nicht geschehen. Wie seine Anhänger darauf reagieren werden, ist ungewiss. Sicher ist, dass die Kombination von Milizen und QAnon brandgefährlich ist.
Das FBI warnt, dass einheimische Terroristen derzeit die grösste Bedrohung für das Land darstellen. Für Präsident Joe Biden war der Sturm aufs Kapitol eine «existenzielle Krise und ein Überlebenstest für die Demokratie». Ein Wirtschaftsboom allein wird nicht ausreichen, diese Krise zu bewältigen.
Weite Teile der Republikaner haben diese Einstellung mittlerweile völlig internalisiert. Die Entwicklung geht in Richtung Nachtwächterstaat, welcher sich lediglich noch um die Sicherheit der Bewohner kümmert. Sogar dieser Bereich wird teils privatisiert, siehe private Gefängnisse und Söldnerfirmen wie Blackwater.