Als Henry Kissinger im Oktober 2017 letztmals im Oval Office des Weissen Hauses gesichtet wurde, da sagte der Hausherr, der damalige Präsident Donald Trump: Normalerweise frage er seine Gäste, ob sie schon einmal in diesem Raum, dem Machtzentrum Washingtons, aufgehalten hätten. Bei Kissinger habe er sich aber nicht die Mühe gemacht. Denn es sei ein offenes Geheimnis, dass sein alter Bekannter das Arbeitszimmer des Präsidenten «viele, viele» Male betreten habe.
In der Tat: In den Sechziger- und Siebzigerjahren ging Kissinger im Weissen Haus ein und aus und drückte der amerikanischen Aussenpolitik seinen Stempel auf. Nachdem der Harvard-Professor den demokratischen Präsidenten John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson als offizieller und inoffizieller Berater gedient hatte, wechselte er unter den Republikanern Richard Nixon und Gerald Ford in den Staatsdienst. Zwischenzeitlich amtierte Kissinger nicht nur als Berater für nationale Sicherheit, von 1969 bis 1975, sondern auch als Aussenminister, von 1973 bis Anfang 1977.
Und obwohl es letztlich die Präsidenten waren, die für die grössten aussenpolitischen Versäumnisse und Errungenschaften in diesen zwei äusserst turbulenten Dekaden verantwortlich zeichneten; Kissinger war immer mitten im Geschehen – als Abgesandter bei den Vietnam-Friedensgesprächen, für die er 1973 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde, als Türöffner im kommunistischen China, als Vermittler im Kalten Krieg mit der Sowjetunion oder als grausamer Zuschauer während des Genozids im heutigen Bangladesch.
Mit Intelligenz, Charme, Rücksichtslosigkeit und einer geradezu eisernen Konstitution versuchte Amerikas berühmtester Diplomat, sein Lebensziel zu erreichen, eine «konstruktive, friedliche Weltordnung» zu schaffen.
Dass Kissinger dieses Ziel verfolgte, lässt sich auch mit seiner Lebensgeschichte erklären. Geboren im Jahr 1923 in der fränkischen Kleinstadt Fürth in Bayern, wuchs der fussballbegeisterte Heinz – so sein Taufname – in der Weimarer Republik auf, dem deutschen Experiment mit Demokratie, das in der Nazi-Diktatur von Adolf Hitler endete.
Kissinger betonte zwar später: «Fürth ist mir ziemlich egal», als ob ein jüdischer Knabe die unangenehmen Erfahrungen, die er während des Aufstiegs Hitlers machen musste, einfach ausblenden kann. «Sie müssen bedenken, dass ich erstens Amerikaner bin, zweitens Aussenminister und drittens Jude», soll Kissinger der israelischen Premierministerin Golda Meir zu Beginn der Siebzigerjahren gesagt haben. (Die Antwort der schlagfertigen Meir? «Henry, Sie haben vergessen, dass wir in Israel von rechts nach links lesen.»)
Henry Kissinger waves to the crowd in his hometown Fürth, Germany after he was presented with the Golden Citizen’s Medallion on this date December 15 in 1975. Photo by Hans Peter Hill. #OTD pic.twitter.com/sVp8JL7wyy
— Dr. Jeffrey Guterman (@JeffreyGuterman) December 15, 2020
Überzeugend klang diese Weigerung Kissingers, Selbstspiegelung zu betreiben, nie. So legte er Zeit seines Lebens seinen dicken Englisch-Akzent nicht ab, den ihn umgehend als Deutschen identifizierte. (Sein jüngerer Bruder Walter antwortete einst auf die Frage, warum er im Gegensatz zu Henry seinen bayerischen Akzent losgeworden sei, mit den Worten: «Weil ich der Kissinger bin, der zuhört.»)
Und dennoch wuchs Kissinger ab dem Jahr 1938, nachdem seine Familie nach Amerika geflüchtet war, und im Stadtteil Washington Heights in New York City ein neues Leben begonnen hatte, als waschechter Amerikaner auf. 1943 wurde der 20-Jährige zum Militärdienst eingezogen, den er auch in seinem Geburtsland absolvierte, als Teil einer Infanterie-Division der US-Streitkräfte. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Kapitulation von Nazi-Deutschland erlebte Kissinger an der Elbe.
1947, mit der Rückkehr ins zivile Leben, begann Kissingers akademische Karriere. 1954 wurde er an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) zum Doktor der Politikwissenschaften promoviert. Seine Dissertation drehte sich um den österreichischen Staatsmann Metternich, was später dazu führte, dass der Autor ständig mit dem Architekten des Wiener Kongresses verglichen wurde.
Kissinger schätzte diese Vergleiche. Er wollte sich mit einer akademischen Laufbahn nicht zufriedengeben. Er war ein Praktiker, ein «wissenschaftlicher Feuerwerkskörper», wie ihn eine amerikanische Zeitung beschrieb. Also mischte er sich zunehmend in aktuelle geopolitische Debatten ein, als Berater des New Yorker Gouverneurs Nelson Rockefeller (der Ambitionen auf das Weisse Haus hegte) und als Zuträger der Regierungen Kennedy und Johnson. Kissinger profilierte sich als Kalter Krieger, der dank seinen deutschen Wurzeln mit den Verhältnissen in Europa vertraut war.
Der eigentliche Durchbruch erfolgte Ende 1968, als ihn Wahlsieger Richard Nixon zu seinem wichtigsten sicherheitspolitischen Berater berief. Die Personalie kam überraschend; hinter verschlossenen Türen hatte Kissinger sich in den Sechzigerjahren abschätzig über Nixon geäussert: «Ich habe Nixon seit Jahren gehasst», sagte er einem Weggefährten. Nixon zahlte es ihm später mit gleicher Münze zurück, indem der Republikaner behauptete, sein weltmännischer Berater leide unter einem Minderwertigkeitskomplex.
Und trotz dieser persönlichen Abneigung, Futter zahlreicher kleiner und grosser Dramen in den nächsten Jahren, kam zwischen Nixon, dem introvertierten Politiker, und Kissinger, dem extrovertierten Intellektuellen, eine höchst fruchtbare Partnerschaft in Gang. Die beiden komplexen Persönlichkeiten tickten gleich, auch wenn sie sich nicht immer verstanden. Und zusammen legten sie das Fundament für ein Ende des Kalten Krieges und eine globalisierte Welt, mit der Détente gegenüber der Sowjetunion, dem historisch bedeutsamen Besuch Nixons in China (1972) und dem (brutalen) Ende des Krieges in Vietnam.
Natürlich wurden diese realpolitischen Verdienste – die einhergingen mit schweren Versäumnissen in Ländern wie Kambodscha, Pakistan und Bangladesch, Indonesien, Zypern oder Chile – allesamt überschattet von Watergate, dem grössten politischen Skandal in der amerikanischen Nachkriegsgeschichte. Und obwohl Kissinger als einer der wenigen hochrangigen Nixon-Berater ungeschoren davonkam, färbte der Skandal auch auf ihn negativ ab.
Nach seinem Rücktritt im Jahr 1977, als in Washington der neue demokratische Präsident Jimmy Carter das Zepter übernahm, machte Kissinger sich daran, seinen Ruf aufzupolieren. Dabei kam dem Vielschreiber zugute, dass er vorzügliche Kontakte zum Establishment in Washington und New York pflegte.
Dank einer Mischung aus Humor und Schlagfertigkeit – sein Bonmot «Macht ist das grösste Aphrodisiakum» wird auch heute noch ständig wiederholt – war Kissinger zudem ein gern gesehener Party-Gast. Mit ihm konnte man über die chinesische Konjunktur, den Krieg im Irak oder die Fussball-Weltmeisterschaft sprechen.
Vielleicht erklärt dies, warum Kissinger auch ein halbes Jahrzehnt nach seinem Rückzug immer noch nach seiner Meinung zu aktuellen Konflikten gefragt wurde – obwohl er doch eine Sicht auf die Welt vertrat, die schon lange nicht mehr dem Zeitgeist entsprach. Zuletzt stiess die Nähe seines Beratungsbüros zu autokratischen Herrschern auf Kritik.
Kissingers Rolle als Staatsmann werde «massiv» überbewertet, schrieb vor einigen Jahren der Historiker David Greenberg. Weder sei er intellektuell einflussreich gewesen, noch habe er Entscheidungen getroffen, mit denen er die Zeitläufte veränderte. Luke Nichter hingegen, Historiker in Texas, vertritt die gegenteilige Meinung. Er sagt: Kissinger habe «überlebensgross» die Welt geprägt, in der wir heute leben. Kissinger meinte dazu, vor einigen Jahren, mit sonorer Stimme: Man sollte ehemalige Offizielle nicht nach ihrem Vermächtnis fragen. «Sie neigen zu Übertreibungen.»
Henry Kissinger, der fussballbegeisterte Knabe aus Fürth, der in seiner neuen Heimat vorübergehend zu einem der mächtigsten Männer der Welt aufstieg, ist am Mittwoch an seinem Wohnort Kent im US-Bundesstaat Connecticut gestorben. Er war 100 Jahre alt.
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