Anthony Robinson hatte seine kleine Tochter an der Hand, als er angegriffen wurde. Der 29-Jährige ging Anfang Juli im New Yorker Stadtteil Bronx mit dem Mädchen über eine Strasse, als links von ihm ein Auto anhielt. Ein von der Polizei veröffentlichtes Video zeigt, wie ein Arm mit einer Pistole auf Robinson zielt. Kurze Zeit später ist er tot. Es sind Szenen wie diese, die in New York und in vielen anderen Städten in den USA momentan deutlich häufiger vorkommen als in den Vorjahren – und grosse Sorgen machen.
Über die Ursachen der Gewaltwelle in der US-Ostküstenmetropole wird gerätselt. Es ist der dritte Ausbruch, der New York und andere Städte in den USA in diesem Jahr beschäftigt: Zuerst kam das Coronavirus, dann die landesweit geteilte Wut über Rassismus und Polizeigewalt – und nun steigt die Zahl der Schiessereien und Morde deutlich. Dabei könnten alle Entwicklungen zusammenhängen.
Die Zahlen, die viele New Yorker in den letzten Wochen schockiert haben und an längst vergangene Zeiten erinnern, sind jedenfalls eindeutig: Im Juni 2020 erhöhte sich die Zahl der Vorfälle mit gefallenen Schüssen in der Acht-Millionen-Metropole im Vergleich zum Vorjahr von 89 auf 205 – ein Anstieg von 130 Prozent. Die Zahl der Morde kletterte mit 39 Toten um 30 Prozent.
Und die Gewalt riss nicht ab. Alleine am Wochenende zum Unabhängigkeitstag um den 4. Juli wurden übereinstimmenden Medienberichten zufolge 64 Menschen von Schüssen getroffen – zehn von ihnen starben. Trotzdem ist das New York Police Department (NYPD) noch immer weit weg von seinen dunkelsten Stunden: 1990, als die Kriminalität ausser Kontrolle war und es 2262 Morde gab. 2019 waren es dagegen nur 319.
Die Entwicklung in New York ist dabei in den USA kein Einzelfall. In einer Reihe weiterer Städte gibt es ähnliche Tendenzen, darunter besonders in Chicago, das 2020 die höchste Mordrate seit mehr als 20 Jahren erreichen könnte. Erst vor einer Woche waren dort bei einer Schiesserei 15 Menschen teils schwer verletzt worden. US-Präsident Donald Trump kündigte vergangene Woche an, wegen der «schockierenden Explosion an Tötungen» Sicherheitskräfte des Bundes in die Millionenstadt und andere Teile des Landes zu schicken.
Eingeschritten ist die Regierung bereits in Portland in Oregon an der US-Westküste, wo schwer bewaffnete Sicherheitskräfte derzeit Nacht für Nacht, teils in Tarnuniformen, auf der Strasse zu sehen sind. Dort geht es jedoch nicht um eine steigende Kriminalitätsrate. Seit dem gewaltsamen Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem Polizeieinsatz Ende Mai dauern dort Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt an. Viele demonstrieren friedlich, zum Teil kam es aber auch zu Auseinandersetzungen mit der örtlichen Polizei. Die Stadt hatte sich ausdrücklich gegen die Entsendung von Einsatzkräften ausgesprochen, doch nun heizen diese – auch mit Tränengas – die Proteste bei nächtlichen Zusammenstössen aus Sicht von Beobachtern an. Gegen das teils brutale Vorgehen der militarisierten Sicherheitskräfte gingen eine Reihe von Klagen ein.
New York hat für den Fall einer Entsendung von Sicherheitskräften des Bundes mit einer Klage gedroht und sagt, es könne die Gewaltwelle in der Stadt allein bewältigen. Bürgermeister Bill de Blasio machte dabei vor allem die Nebenwirkungen der Corona-Pandemie für den Anstieg der schweren Verbrechen verantwortlich. Es gehe um die Tatsache, «dass das Gerichtssystem nicht arbeitet, dass die Menschen seit Monaten angespannt sind», sagte er. Was der Bürgermeister nicht erwähnte, wohl aber die Polizei, ist die durch die Krise stark gestiegene Zahl an besonders gefährdeten Gefängnisinsassen, die wegen des im Strafvollzug grassierenden Virus vorzeitig entlassen wurden.
«Derzeit liegt die Zahl der auf Bewährung Entlassenen, die an Schiessereignissen oder Morden beteiligt waren, auf einem 15-Jahres-Hoch», hiess es vom NYPD. Die Polizisten machen für die Entwicklung auch Reformen der Stadt mitverantwortlich, die unter anderem die Zahl der Insassen aus dem berüchtigten Gefängnis Rikers Island reduzieren sollen – und deshalb nach Ansicht der Polizei mehr Kriminelle auf die Strasse bringen.
Dazu kamen öffentliche Forderungen nach einer Umstrukturierung der Polizei. Der New Yorker Stadtrat reagierte auf sie damit, eine Milliarde Dollar des 6-Milliarden-Budgets des NYPD zusammen mit einigen Tausend Beamten einer anderen Behörde zu unterstellen. Spätestens seitdem brodelt es unter den 36'000 Polizisten und ihrem Chef Dermot Shea.
In einem durchgestochenen internen Polizeivideo bezeichnete er die örtlichen Politiker als «Feiglinge»: «Sie versagen bei jeder möglichen Massnahme, Anführer zu sein, und sie fallen den Männern und Frauen dieser Polizeibehörde in den Rücken.» Aus dem Stadtrat kamen Berichten zufolge dagegen Vorwürfe, die Polizei greife womöglich nicht mehr so durch wie sonst – auch deswegen, weil Beamte sich angesichts der landesweiten Proteste und Einschnitte zu Unrecht an den Pranger gestellt fühlten. (cki/sda/dpa)
Was erwarten die denn, dass die Leute zu Hause (oder auf der Strasse) sitzen bleiben und verhungern?
Ich will Gewalt nicht schön reden, im Gegenteil, aber keine Ahnung was ich machen würde wenn ich von heute auf Morgen alles verliere und aus der Wohnung geschmissen werde. Viele greifen dann zu Alkohol und Drogen, manche eben zur Gewalt. Nicht schön, aber nachvollziehbar.