Zufallsbegegnungen auf der Strasse ersetzen keine Meinungsumfragen, und Mann und Frau auf der Strasse enthüllen meistens keine tieferen Erkenntnisse. Aber die Umfragen über die Haltung der US-Bevölkerung zum Krieg in der Ukraine geben auch nicht mehr Klarheit her. Eine rasche Google-Suche ergibt «die meisten Amerikaner wollen, dass die USA mehr tun, um Russland zu stoppen», «Amerikaner unterstützen No-fly-Zone in der Ukraine» und «Mehrheit in den USA will Diplomatie, nicht Krieg». Und der endlose Redestrom der «Experten» bestätigt im Wesentlichen nur, was Bundesrat Ueli Maurer als «hohe Ratlosigkeit» im Bundeshaus beschrieben hat (es war am Tag, als die Schweiz sich von den Russland-Sanktionen distanzierte, die sie wenige Tage später übernahm).
Ein bisschen Generalisierung des Erlebten und Gehörten auf meinem road trip von New York nach Kansas, via West Virginia, Kentucky und Missouri ist deshalb erlaubt. Der Befund ist dreifältig:
Trotz den Beteuerungen von Präsident Joe Biden herrscht in den die Vereinigten Staaten keineswegs Einigkeit, wie zu handeln wäre, falls der Zarewitsch in Moskau entscheiden sollte, irgendjemand in der Nato haben ihn auf irgendeine Weise angegriffen. Das ist «bekanntlich» (aber im Mahlstrom der Fernseh-Erklärungen viel zu simpel dargestellt) der neuralgische Punkt der Ukraine-Situation: Wenn der Krieg auf Nato-Gebiet überschwappt, wird «der Westen» einbezogen, mit allen möglichen Eskalationsstufen.
Wann das der Fall wäre, ist Definitionssache – hüben und drüben. Präsident Biden erntete Hohn und Spott, als er einen «geringfügigen Einfall» von einem «Angriff» differenzierte, aber er hatte Recht. Die Frage ist offen, wie viel Eskalation die USA sich bei einem Angriff auf einen europäischen Nato-Staat – sagen wir Estland oder Litauen – zumuten würde.
Auf dem Weg nach Matewan (West Virginia), vor über hundert Jahren Schauplatz der legendären Fehde zwischen den Hat-fields und den McCoys und der grössten Schiesserei in der amerikanischen Geschichte, traf ich zwei Männer, die am Strassenrand Munition verkauften. Es war am Tag, als Putin die beiden abtrünnigen Regionen des Donbass als «souveräne» Staaten anerkannte. Ich fragte, ob sie sich Sorgen machten, dass ein Krieg ausbrechen könnte. «Ich hoffe nicht, ich will keinen Krieg», sagte der erste, und der zweite fügte hinzu: «Krieg – das ist, was die wollen. Dann bewilligt der Kongress alle Gelder, die sie wollen, und die Hälfte davon geht in ihre Taschen.» That’s what they want.
Man kann sich wundern, ob das they hier im neumodisch-genderneutralen Sinn auf Präsident Biden oder seinen im Ukrainegeschäft reich gewordenen Sohn gemünzt gewesen sein könnte, aber viel wahrscheinlicher ist, dass «sie» in der Mehrzahl die Eliten, die «Liberals», die Mehrbesseren sind, die den kleinen Mann mit Steuern plagen und mit Waffengesetzen.
In Matewan (500 Einwohner), sagte der Kaffeehausbesitzer Keith Gibson, ein lebendes Lexikon über die blutige Lokalgeschichte: «Sicher ist, dass Putin vor Biden keine Angst hat. Unter Trump wäre das nicht passiert.» Diesen Satz «unter Trump wäre das nicht passiert» hörte ich unterwegs mehrmals. In Kansas City sagte Mary, eine Optikerin in einem Brillengeschäft: «Ich habe Trump nicht gemocht. Aber dieser Krieg … ich denke, das wäre unter Trump nie passiert. Auch der verbockte Rückzug aus Afghanistan nicht.» Nach dem Warum gefragt sagte sie: «Er war, weisst du, er hätte ihnen wirklich, wirklich hart gedroht. Sie hätten besser verstanden, worauf sie sich einlassen, wenn sie einen Krieg anfangen.»
Die Annahme, Präsident Biden sei «schwach» und habe die Eskalation der ukrainischen Situation in einen grossen Krieg geschehen lassen, wird von Trump herausgetrötet (er nannte Putin ein «Genie», als er die Donbass-Gebiete anerkannte) und von der Republikanischen Partei genährt. Der ehemalige Vizepräsident Mike Pence sagte in einem TV-Interview, der Kriegsausbruch bestätige «die historische Wahrheit, dass Schwäche das Böse herausfordert».
Bidens Hinnahme der deutsch-russischen Nord-Stream-2-Pipeline, die Wiederaufnahme von Atomverhandlungen mit Iran und der schiefgelaufene Truppenabzug aus Afghanistan seien Signale der Schwäche gewesen und hätten «die Bedingungen geschaffen, welche unsere Gegner in der Welt, Russland und Putin eingeschlossen, ermutigt haben, zu tun, was sie heute tun». Mehr denn je sei es wichtig, «eine klare Botschaft amerikanischer Stärke auszusenden».
Nur ist es mit dem klaren Signal amerikanischer Stärke so eine Sache. Die politische Rechte macht da nicht mehr geschlossen mit, wenn es um Russland geht. Zum Beispiel Tucker Carlson, der idiot savant beim Trump-freundlichen «Fox News», und kleinere Kaliber in seinem Schlepptau. Bis vor kurzem erklärte Carlson, die Situation in der Ukraine habe mit den US-Interessen nichts zu tun und die Verantwortung für die Eskalation liege bei Biden. Biden’s war. Carlson äffte Muhammad Ali nach, der zur Verweigerung des Militärdienstes im Vietnamkrieg gesagt hatte: «Ich habe keinen Streit mit dem Vietcong, kein Vietcong hat mich je Nigger genannt».
Tucker, auch ein Mann, der nie Uniform trug, coverte Ali so: «Seit dem Tag, da Donald Trump Präsident wurde, haben die Demokraten in Washington dir gesagt, es sei deine patriotische Pflicht, Wladimir Putin zu hassen. Hat Putin mich je einen Rassisten genannt? Hat er gedroht, mich zu entlassen, weil ich nicht seiner Meinung war? Hat er jeden Mittelklasse-Job in meiner Stadt nach Russland ausgelagert? Hat er eine weltweite Pandemie produziert, die mein Geschäft ruinierte und mich für zwei Jahre zuhause gefangen hielt? Lehrt er meine Kinder, Rassendiskriminierung zu betreiben?»
Das war in der Nacht auf den 24. Februar, wenige Stunden bevor Putin das Signal zum Angriff auf die Ukraine gab.
Am Weg lag Fulton (Missouri), weit abgelegen von den Zentren, draussen im Lauch, aber ein Mekka der «Frieden durch Stärke»-Strategen. Am Westminster College in Fulton hielt Winston Churchill am 5. März 1946 seine «Sinews of Peace»-Rede, in welcher er den Begriff des «Eisernen Vorhangs» über dem sowjetisch besetzten Osteuropa («sowjetische Sphäre») prägte und die neu gegründete Uno mit den «englischsprachigen Völkern» an der Spitze (Churchill war ein Rassist und ein Imperialist) aufforderte, mit ganzer Kraft entgegenzuhalten: «Es gibt nichts, was sie mehr schätzen als Stärke und es gibt nichts, wovor sie weniger Respekt haben als Schwäche, besonders militärische Schwäche.»
Daraus wurde der Kalte Krieg. Fulton – neben den Schulgebäuden bauten sie aus den Steinen einer zerbombten Londoner Kirche ein «National Churchill Museum» – wurde zur Wallstätte der grossen Figuren der Epoche, Reagan, Thatcher, Walesa, Gorbatschow sprachen hier. Heute ist zersplittert, was sich in Amerika «konservativ» nennt. Wohl verurteilt männiglich den Krieg in der Ukraine, aber Worte sind billig, und in die republikanische Unterstützung der Boykotte mischt sich Kritik an Präsident Biden, der als «zu schwach» angegriffen wird, weil er die Strafmassnahmen gegen Russland erst nach und nicht vor dem Einmarsch erlassen hat.
Der tiefere Bruch besteht darin, dass Ex-Präsident Trump, sein Aussenminister und die Gefolgsleute im In- und Ausland sich von vornherein auf die Seite von Wladimir Putin gestellt und den Konsensus aus dem Kalten Krieg verlassen haben. Das amerikanische Dogma, wonach politische Differenzen «am Wasser aufhören» – dass die USA in der Weltpolitik geschlossen auftreten –, gilt nicht mehr. Es formiert sich ein Isolationismus, der die Parteigrenzen möglicherweise unterläuft und sehr ähnliche Züge wie der Isolationismus der 1930er Jahre aufweist. Beide zeigen Verständnis für autokratische Herangehensweisen im Ausland – damals für Hitler und Mussolini, heute für Putin.
Trump und die Trumpisten äussern Bewunderung für Putin als strongman, akzeptieren die russischen Ansprüche auf die Ukraine und ihre imperialistischen und quasi-rassistischen Begründungen (Schutz der «Russischsprachigen»), und sie neigen dazu, den ukrainischen Hang nach Westeuropa auf amerikanische Manipulationen oder «faschistische» Unterwanderung zurückzuführen. In vielem liegen diese «Konservativen» auf einer Linie mit der ganz alten Linken und den neuen Faschisten in Europa, die als «Putin-Versteher» das Internet bevölkern.
Ich besuchte das Museum am letzten Februarsamstag, dem dritten Kriegstag. Am Billettschalter tat Timothy Dienst, ein Geschichtsstudent, der sich hier das Taschengeld aufbessert. Wir begannen zu reden, auch Don hinter mir schloss sich dem Gespräch an. Don, ein Enddreissiger aus Seattle, kam zum zweiten Mal, weil der Krieg ihn aufwühlt und er nach Antworten suchte.
Wie siehst du den Krieg in der Ukraine?
Timothy: Diese Frage ist zu breit.
OK, was denkst du darüber, dass Donald Trump sich auf die Seite von Putin stellt?
Timothy: Das ist auch vielschichtig. Ich versuche, die aktuellen Worte von dem zu trennen, was dahinter liegt. Du musst sehen, dass wir in den USA für lange Zeit nur hörten, man müsse Angst vor den Russen haben. Das filterte sich in die Bevölkerung hinein. Meine Eltern denken so. Trump versuchte, diese Konzepte aufzubrechen. Er sprach mit Putin, mit Nordkorea, und er wurde dafür angegriffen.
Aber zu sagen, der Angriff auf die Ukraine sei «genial», geht doch zu weit, oder nicht?
Timothy: Wir wissen nicht, was Putin will.
Don: Aber sicher wissen wir, was er will. Er will die Ukraine in seine Gewalt bringen.
Macht der Krieg euch Angst. Er könnte eskalieren, bis in die nukleare Dimension?
Don: Was mir wirklich Angst macht, ist, dass Russland und China eine Art Allianz schliessen könnten. Das wäre die grosse Sache.
Was soll geschehen?
Don: Sanktionen. Und mehr Unterstützung für die Ukrainer.
Timothy: Was ich nicht will, sind amerikanische Kampfstiefel auf ukrainischem Boden. Nach 20 Jahren Afghanistan haben wir genug. Wir brauchen eine Pause.
Don: Ich finde es unglaublich, dass wir 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs zum Kampf und zum Krieg von West gegen Ost zurückkehren. Ich dachte, dass wir das hinter uns gelassen haben.
Timothy: Kampf wird es immer geben. Reden, Kämpfen und Essen sind die drei Hauptimpulse in der menschlichen Existenz.
Du vergisst Sex.
Timothy: OK, vier.
Im Innern des Museums sind neben allerlei Memorabilien alle 48 Zettel von Churchills Text ausgestellt, mit den stenographierten Korrekturen der Sekretärin. Bildschirme an der Wand zeigen Ausschnitte der Rede. Don schaute sich diese gebannt an, und als er sich schliesslich vom Video wegwandte, sagte er: «Komm her, das musst du sehen. Wenn du das hörst, wird dir gruselig, so aktuell ist es.»
Letzter Halt auf meiner Fahrt war die Front Ranch Bar in Kansas City. Am Tresen unterhielten sich zwei Männer lautstark über den Krieg, es ging um die Börse, die Auswirkungen auf «die Wirtschaft», die Perspektive eines Nuklearkriegs. «Ich sorge mich nicht so sehr über einen Atomkrieg», sagte der eine. «Was mir mehr Sorgen macht ist, dass der Sicherheitsrat auseinanderfallen könnte.»
Mir fiel beinahe das Glas aus der Hand. Wenn in einer Bar in Kansas City über den Uno-Sicherheitsrat geredet wird, hat sich die Welt wohl wirklich geändert.
Einem jedem Land sein Blocher.