Er galt viele Jahre als der Grund dafür, dass es den Menschen in der Türkei wirtschaftlich besser ging – aber diese Zeiten sind vorbei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan ringt mit einer Wirtschaftskrise, die er zum grössten Teil selbst verschuldet hat. Die Folgen seiner Wirtschaftspolitik: sie sind verheerend.
Die Landeswährung Lira stürzt seit Jahren immer weiter ab, unabhängige Institute schätzen die Inflation im Land auf 140 Prozent. Für viele Türkinnen und Türken ist der Gang zum Supermarkt ein Schrecken worden. Lebensmittel werden immer teurer, Händler kommen mit dem Umettiketieren der Preise kaum hinterher, wer es sich leisten kann, kauft Essen auf Vorrat.
Trotz dieser fundamentalen Krise ist Erdoğan nicht abgetreten, er sitzt weiter fest im Sattel. Zumindest bislang. Denn bei der Präsidentschaftswahl im Mai könnte er dann doch die Quittung für seine politischen Fehler bekommen. Niemals zuvor in Erdoğans Amtszeit hatte eine geschlossene Opposition so gute Chancen auf einen Machtwechsel. Zugleich kämpft der Präsident mit unfairen Mitteln. Er weiss: Es ist sein Endspiel um die Macht – und genau das kann zu einer ernsten Gefahr für die Türkei werden.
In seiner politischen Laufbahn konnte sich Erdoğan bis jetzt auf eines immer verlassen: Er ist ein guter Wahlkämpfer. Trotz der wirtschaftlichen Probleme seines Landes kann der Präsident noch immer Stadien und Plätze mit seinen Anhängerinnen und Anhängern füllen.
Bei seinen Veranstaltungen im Januar stand Erdoğan wie so oft vor einem Fahnenmeer, Tausende Menschen jubelten ihm zu. Der 68-Jährige schimpfte gegen die Opposition, gegen die kurdische Terrororganisation PKK, gegen einen angeblich islamfeindlichen Westen – bis ihm die Stimme fast versagte.
Schuld an dem wirtschaftlichen Dilemma haben nach Erdoğans Lesart vor allem ausländische Mächte, die die Türkei kleinhalten möchten. Anerkannte Ökonomen sehen das anders. Ihnen zufolge ist die Hauptursache für den Währungsverfall die Niedrigzinspolitik, die der Präsident gegen den Rat der meisten Experten mit aller Gewalt durchdrückte. Und Schuld ist demnach auch die türkische Regierung, die das rasante Wirtschaftswachstum auf Pump finanzierte und deshalb in einem hohen Mass von Devisen abhängig ist.
So oder so: Die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei war in den vergangenen Jahren für einen Grossteil der Bevölkerung wahlentscheidend. Dementsprechend ist die selbst verschuldete Wirtschaftskrise auch der grösste Gegner für den Präsidenten bei dieser Wahl. Denn nun ist der Wohlstand von vielen Türkinnen und Türken ernsthaft in Gefahr, und das greift das Narrativ von Erdoğan an, der sich immer als Wirtschaftsgenie präsentierte.
Dennoch: Erdoğan ist noch im Rennen. Entscheidend bei der Wahl wird sein, wie sehr ihm die Instrumente, die er in den vergangenen Jahren zum Ausbau und Erhalt seiner Macht aufgebaut und genutzt hat, durch diese Krise helfen können. Seine politische Stärke beruht dabei auf folgenden Punkten:
Es ist demnach vor allem seine Machtfülle, die Erdoğan auch in dieser Krise zum stärksten politischen Akteur macht. Sein mutmasslich grösster Konkurrent Ekrem İmamoğlu – der CHP-Bürgermeister von Istanbul – wurde wegen Beleidigung mit einer Haftstrafe und einem Politikverbot belegt. Die republikanische CHP ist derzeit die grösste Oppositionspartei in der Türkei. Gegen die pro-kurdische HDP wiederum gibt es ein Verbotsverfahren, das Menschenrechtler als politisch motiviert bezeichnen.
Darüber hinaus wirft Erdoğan vor seiner Schicksalswahl mit Geschenken um sich: Er hob den Mindestlohn um 55 Prozent an, und zwei Millionen Beschäftigte in der Türkei dürfen früher in Rente. Fest steht: Erdoğan kämpft mit allen Mitteln.
Zuletzt verlegte der AKP-Chef die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen von Juni auf den 14. Mai vor. Das soll vor allem Druck auf die Opposition erzeugen, denn die grösste Oppositionspartei hat bisher aus strategischen Gründen noch keinen Gegenkandidaten aufgestellt. Das soll nun im Februar geschehen, und es bleiben höchstens drei Monate für den Wahlkampf.
Wahrscheinlich ist die Opposition in der Frage zurückhaltend, weil sie die türkische Regierung daran hindern will, juristisch gegen einen Erdoğan-Rivalen vorzugehen. Zwar könnten sie noch immer İmamoğlu aufstellen, weil sein Urteil noch nicht rechtskräftig ist, aber das wäre sehr risikoreich.
Damit stehen sich bei der Türkei-Wahl zwei Allianzen gegenüber: Erdoğans AKP im Bündnis mit der rechtsradikalen MHP auf der einen Seite sowie auf der anderen Seite die oppositionelle «Allianz der Nation», die sich aus sechs Parteien mit teilweise sehr unterschiedlichen Ideologien zusammensetzt.
Die CHP und die nationalkonservative Iyi sind dabei mit Abstand die grössten Parteien in der Oppositionsgruppe. Ein weiteres Bündnis bildet die pro-kurdische HDP mit kleineren Parteien. Der Rest der Erdoğan-Gegner hält derzeit Abstand zur HDP, weil die türkische Regierung ihr Nähe zur kurdischen Terrororganisation PKK vorwirft. Aber die HDP könnte im Parlament auch einen möglichen CHP-Präsidenten unterstützen.
Die Opposition eint vor allem ein gemeinsames Ziel: Sie möchten Erdoğan loswerden. Mittlerweile hat die Sechserallianz ein Programm vorgestellt. Sie wollen die Wirtschaft stabilisieren, mit de«r EU er»neut über Geflüchtete verhandeln und die Macht des Präsidenten zugunsten des Parlaments schmälern. Aber ob es am Ende für eine gemeinsame Regierungspolitik reicht, ist völlig offen.
Zunächst einmal muss die CHP einen Gegenkandidaten für Erdoğan finden. Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu gilt als besonnener Vermittler, und das wäre bei der Grösse des Bündnisses von Vorteil. Aber er gilt als schlechter Wahlkämpfer. Dagegen ist der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, auch für Konservativere wählbar. Aber er ist ein Nationalist, und es ist fraglich, ob kurdische Wählerschichten ihn akzeptieren würden. Für die Opposition ist die Kandidatensuche demnach äusserst kompliziert.
In vielen Umfragen lagen im direkten Vergleich mit Amtsinhaber Erdoğan vor allem Yavaş und İmamoğlu leicht vorne. Aber da sich Meinungsforschungsinstitute in der Türkei oft einem politischen Lager zuordnen lassen, sind die Ergebnisse nur wenig aussagekräftig. Mit Blick auf alle Erhebungen scheint nur klar zu sein: Das Rennen bei der Präsidentschaftswahl wird eng.
Türkiye, ORC poll:
— Europe Elects (@EuropeElects) February 2, 2023
AKP~NI: 30% (-2)
CHP-S&D: 23% (-3)
İYİ~RE: 19%
HDP-S&D: 8%
MHP~NI: 6% (-1)
GP-*: 3%
DEVA-*: 3% (+1)
TDP-*: 2% (n.a.)
ZP-*: 2% (+1)
BBP-*: 2% (n.a.)
...
+/- vs. 13-16 January 2023
Fieldwork: 23-26 January 2023
Sample size: 4,580
➤ https://t.co/0NuW7xSOwL pic.twitter.com/tzG2e4TnrT
Anders sieht es jedoch bei den Parlamentswahlen aus. Während Erdoğans persönliche Beliebtheitswerte ihm noch Chancen eröffnen, ist die AKP im Umfragetief. Im Durchschnitt aller Umfragen liegt Erdoğans Partei nur noch bei knapp über 30 Prozent, und zusammen mit der MHP ist das Bündnis weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Das oppositionelle Bündnis liegt deutlich in Führung und hat vor allem mit der HDP gute Chancen, die absolute Mehrheit zu erreichen. Deswegen ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass die türkische Justiz nun das Verbotsverfahren anvisiert.
Aber das ist nur der aktuelle Stand. Die Türkei erwartet in den kommenden Monaten eine heisse Wahlkampfphase, Erdoğan ist zwar durch die Wirtschaftskrise angezählt, aber noch lange nicht K. o. Selbst wenn er die Wahl verlieren sollte, könnte er seine Macht und den Rückhalt seiner Anhänger nutzen und das Ergebnis nicht anerkennen. Eine Gefahr, die die Türkei noch weiter ins Chaos stürzen könnte.
Verwendete Quellen:
(t-online)
D.Enk-Zettel
Zanzibar
Lordkanzler-von-Kensington