Sie
wollen das Rentenalter abschaffen. Wie kommen Sie auf diese verrückte Idee?
Michael Braungart: Als das Rentenalter eingeführt wurde, war
unsere Lebenserwartung genau halb so hoch. So gesehen müsste das Rentenalter
heute bei 88,2 Jahren liegen. Damals hat man die Rente nur für die Menschen gemacht,
die man sonst nicht tot kriegen konnte. Jetzt aber werden die jungen Leute von
den alten enteignet.
Die
Rente ist doch sicher, wie uns immer wieder versichert wird.
Unsere Gesellschaft kann es sich leisten, Menschen
eine Rente für den Zeitraum von 10 Jahren zu bezahlen. Heute sind wir bei 20
Jahren und mehr angelangt. Das wird eng. Zudem ist die Rente überflüssig
geworden. Die Gesellschaft ist so jung wie noch nie, denn ein 60-Jähriger hat das biologische Alter eines 40-Jährigen.
Haben
Menschen, die 40 Jahre und mehr geschuftet haben, nicht ein Anrecht, in Rente zu
gehen?
Darum geht es gar nicht: Heute wird jeder, der
mehr als 65 Jahre alt ist, als Abfall deklariert. Wir entsorgen unsere Rentner als
Sondermüll auf Mallorca. Nach drei Jahren können sie mit diesen Menschen nichts
mehr anfangen – ausser über die schönsten Strände oder die schönsten Golfplätze
zu sprechen. Die entsorgten Rentner retardieren komplett.
Was
schlagen Sie als Alternative vor?
So lange wir gesund sind, sollten wir tätig
sein. Wenn wir hingegen krank und pflegebedürftig sind, brauchen wir viel mehr
Unterstützung, als wir heute erhalten. Deshalb kann ich mir folgenden
Lebensentwurf vorstellen: Wie sind ein Drittel unseres Lebens sozial tätig, ein
Drittel traditionell erwerbstätig und ein Drittel landwirtschaftlich.
Dummerweise brauchen wir gar nicht mehr so viele Bauern.
Natürlich müssen wir nicht aufs Land ziehen und
den Bauern Konkurrenz machen. Es geht darum, dass wir beginnen, in den Städten
Gärten anzulegen. Ein Haus wie beispielsweise das neue Roche-Gebäude in Basel
eignet sich bestens, um beispielsweise Algen anzupflanzen. Das Eiweiss dieser
Pflanzen ist viel gesünder als Mais. Auf diese Weise können wir beginnen, die Weltuntergangs-Diskussion
in Innovation umzuwandeln.
In der
Schweiz gab es einen Riesenaufschrei, als kürzlich wieder einmal das
Rentenalter 67 aufs Tapet kam. Wie wollen Sie Ihre Vorstellungen politisch
umsetzen?
Mir geht es nicht um sinnlose Schufterei, sondern um
eine lebenslange Tätigkeit. Arbeit sollte mehr sein als eine Belastung. Natürlich
hat der Bauarbeiter oder der Dachdecker Anspruch darauf, von der körperlich
schweren Arbeit befreit zu werden. Das sollte meiner Ansicht nach schon im
Alter von 40 Jahren geschehen. Danach sollen diese Menschen Arbeiten ausüben,
bei denen körperliche Tätigkeiten nicht mehr so wichtig sind. Sonst werden sie zu
körperlichen Wracks.
Kann
man überhaupt Arbeitsbedingungen schaffen, bei denen die Menschen gesund
bleiben?
Das geht, wenn man die Arbeit sinnvoll
verteilt und andere Tätigkeiten schafft. Kinder etwa brauchen viel mehr
Aufmerksamkeit als sie heute erhalten, nicht nur von ihren Eltern. Unsere Natur
braucht viel mehr Aufmerksamkeit. Deshalb plädiere ich nicht für eine
lebenslange Arbeit, sondern für eine lebenslange Tätigkeit.
Ohne die freiwillige Arbeit von älteren Menschen würde unsere Gesellschaft schon heute zusammenkrachen. Freiwilligenarbeit kann ein guter Anfang sein, aber sie ist willkürlich und zufällig. Ich treffe oft auf Rentner, die mir erzählen, dass sie gerade zum fünften Mal die Seidenstrasse rauf und runter gefahren sind. Das sind parasitäre Existenzen, die anderen Menschen Lebensmöglichkeiten wegnehmen.
Brauchen
wir ein anderes Wirtschaftssystem, um die Arbeit nach Ihren Vorstellungen zu
organisieren?
Ich bin nicht jemand, der nach einer
Revolution schreit. Wir müssen das bestehende System weiterentwickeln und
Arbeit befriedigender gestalten. Ich habe kürzlich ein Einstellungsgespräch mit
einem jungen Mann geführt. Er hat mir erklärt, er wolle vor allem ein Burn-out
vermeiden. Da hab ich ihm geantwortet: Fangen Sie erst mal mit einem Burn-in an!
Wie
passt das bedingungslose Grundeinkommen in Ihre Vorstellungen?
Ich hätte lieber ein bedingungsvolles
Grundeinkommen. Die Gesellschaft stellt uns Dinge zur Verfügung und hat daher
auch ein Recht, eine Gegenleistung zu verlangen. Die kollektiven
Menschenrechte sind genauso wichtig wie die individuellen. Das Kollektiv
Schweiz hat ein Recht, dass Menschen sich engagieren, wenn sie vom Staat bezahlt
werden.
Haben
Sie die Abstimmung über ein bedingungsloses Grundeinkommen in der Schweiz
verfolgt?
Mit Interesse sogar.
Wie
unterscheidet sich Ihr bedingungsvolles vom bedingungslosen Grundeinkommen?
Das bedingungsvolle Grundeinkommen ist an eine
Tätigkeit geknüpft. Es kann nicht angehen, dass man nur die Dienste der
Gesellschaft in Anspruch nimmt und nichts zurückgibt.
Unter
Tätigkeit verstehen Sie nicht traditionelle Lohnarbeit?
Natürlich nicht. Tätig zu sein kann auch
heissen, sich um Kranke zu kümmern. Heute sind sie Pflegefälle, die im zwölf
Minuten Takt behandelt werden. Tätig sein kann auch heissen, beschauliche
Gartenarbeit zu verrichten, weil man mit dem stetig steigenden Leistungsdruck
nicht mehr klar kommt.
Sie
spotten über Verzicht und Moral – und gleichzeitig sind Sie ein Kämpfer für eine
ökologische Welt. Wie geht das zusammen?
Ich bin durchaus auch für Moral. Nur jedes
Mal, wenn man sie predigt, führt das zu Doppelmoral. Wo hat der schlimmste
Kindesmissbrauch stattgefunden? In der Kirche.
Wir
leben in einer Zeit, in der Moral wieder wichtig wird. Nur heisst sie jetzt «political
correctness». Was halten Sie davon?
Political Correctness ist ein
Unterdrückungs-Instrument. Ich habe derzeit Ärger mit der Frauenbeauftragten an
meiner Universität. Sie sagt mir stets, dass ich die Frauenaspekte mehr
berücksichtigten müsse. Dabei stammen bei mir drei Viertel der besten
Abschlüsse von Frauen. Was soll ich also noch berücksichtigen? Ich habe ihr
daher vorgeschlagen, dass ich künftige nicht mehr meine «males» (Mails),
sondern meine «females» checken werde. Ich habe das lustig gefunden, sie
weniger.
Die Political Correctness geht weit über den Feminismus hinaus.
Es ist in der Tat ein Versuch, die Menschen
unter Kontrolle zu bekommen. Ich halte das für falsch. Menschen sind besser mit
positiven Zielen zusammenzubringen.
Wie
sieht Ihre grüne Nicht-Moral aus?
Ich bin ein Freund von guten Produkten. Nur
schlechte Qualität produziert Abfall. Wenn ich gute Qualität habe, dann brauche
ich keine Moral mehr. Dabei hilft mir
die narzisstische Selfie-Generation.
Weshalb?
Die jungen Menschen wollen Innovation und neue
Produkte. Vor zehn Jahren galt ich noch als der Feind der chemischen Industrie.
Jetzt werde ich für Preise und Auszeichnungen vorgeschlagen, weil ich von
Gymnasium zu Gymnasium und von Universität zu Universität ziehen und dort meine
Botschaft verbreiten kann.
Sie
selbst waren in jungen Jahren ein Öko-Rebell.
Aber ich habe meine Liebe zur Chemie nie
verleugnet, und ich bin mir im Klaren darüber, dass ich moralisch nicht besser
bin als jeder andere Chemiker. Es gab eine Zeit, da musste man ganz einfach protestieren.
Damals fuhren Schiffe mit konzentrierter Schwefelsäure aufs offene Meer, um sie
dort zu entladen. Die mussten mit voller Geschwindigkeit fahren, damit sie sich
nicht selbst aufgelöst haben. Ich konnte Wege aufzeigen, wie man die Schwefelsäure
umweltfreundlich zurückgewinnen kann. Oder ich habe eine Methode entdeckt, bei
der man Zellstoff bleichen kann ohne dabei Chlor einzusetzen.
Gibt es
überhaupt eine ökologische Chemie?
Ganz klar, wir verhalten uns bloss dumm. Wir
haben auf der Erde einen Überschuss an Energie, den wir in andere Materie
umsetzen könnten. Würden wir dies tun, dann könnten wir – ökologisch gesehen –
leicht fünf Planeten haben.
Und
müssten keine Angst haben vor dem ökologischen Fussabdruck?
Nein, wir müssten den Menschen nicht mehr als
Schädling verdammen, sondern wir könnten ihn feiern. Ein grosser Fussabdruck ist
eine ideale Voraussetzung, um beispielsweise ein neues Feuchtgebiet zu
schaffen.
Könnten wir die Menschen auch ernähren?
Sicher. Nehmen Sie Holland, ein Land, das etwa
gleich gross ist wie die Schweiz, aber doppelt so viele Einwohner hat und
trotzdem nach den USA der zweitgrösste Exporteur von Lebensmittel ist.
Dank
einer hoch industrialisierten Landwirtschaft.
Industrialisierung findet in der Viehhaltung
statt. Ich plädiere jedoch für eine Garten-Landwirtschaft.
Mit
Kleinbauern und ohne Gentech?
Ja, eine Garten-Landwirtschaft kann auch ohne
Gentech sehr produktiv sein. Hätten wir auf der ganzen Welt eine Landwirtschaft
wie in Holland, dann könnten wir rund 45 Milliarden Menschen ernähren. Aber
eben nicht mit Rindfleisch, übrigens die
ungesündeste Form von Eiweiss.
Sie haben
das sogenannte Cradle-to-Cradle-Prinzip entwickelt. Können Sie es kurz
zusammenfassen?
Dinge, die beim Gebrauch kaputt gehen –
Schuhsohlen oder Waschmittel beispielsweise – sollten so gebaut werden, dass sie biologisch abbaubar sind und man sie kompostieren kann. Dinge, die nur
genutzt werden – Waschmaschinen oder TV-Geräte – sollten so
gestaltet werden, dass sie in die Technosphäre gehen und recycliert werden
können.
Haben
Sie ein konkretes Beispiel?
Als Student habe ich mit Nicolas Hayek an der
Entwicklung des Smart-Autos gearbeitet. Schon damals wollten wir kein Auto verkaufen, sondern 1000 Fahrkilometer, also nur die Nutzung.
So hätte es sich gelohnt, teure Materialien zu verwenden und ein qualitativ
hochstehendes Kleinauto zu bauen. Als Mercedes Smart gekauft hat, blieb vom
ursprünglichen Konzept nur das Cockpit übrig. Geblieben ist ein extrem
hässliches, Benzin fressendes Vehikel.
Ist das
nicht das Dilemma des Cradle-to-Cradle-Prinzips? Es ist kurzfristig mit der
Billigbauweise nicht wettbewerbsfähig.
Überhaupt nicht. Die Dinge, die wir machen,
sind im Durchschnitt 20 Prozent günstiger. Deshalb gibt es in der Schweiz eine
ganze Menge von Unternehmen, die mit dem Cradle-to Cradle-Prinzip arbeiten. So
haben wir mit Triumph einen Büstenhalter entwickelt, den man auf dem Kompost
entsorgen kann.
Trotzdem:
Öko gilt doch in der Regel als teuer. Man zahlt mehr, hat aber dafür ein gutes
Gewissen.
Das ist dumm. Wenn man nicht die
billigsten Rohstoffe nimmt, sondern die besten, dann kann man auch ganz andere
Dienstleistungen anbieten. Heute geht etwa bei Turnschuhen doppelt so viel Geld
ins Marketing wie in die Produktion der Schuhe. Wäre es da nicht viel
sinnvoller, eine bessere Qualität bei den Schuhen anzustreben?
Sie
entdecken fast überall giftige Stoffe, selbst in der Muttermilch.
Menschen atmen sehr viele Schadstoffe ein,
auch Mütter. Deshalb hat es in der Muttermilch tatsächlich eine sehr hohe
Konzentration an Schadstoffen.
Also
Schluss mit Stillen?
Nein, Mütter sollten ihre Kinder neun Monate
lang stillen. Bei Babys wird die Leber erst allmählich aufgebaut, deshalb
rauschen die Schadstoffe in diesem Zeitraum einfach durch. Mütter, die ihre
Kinder zwei Jahre oder noch länger stillen, betreiben jedoch, was ich «toxisches
Harassment» nenne.
Sie
sagen auch, dass die Luft in den Häusern dreckiger sei als die Aussenluft.
Das gälte selbst für die dreckige Stadtluft.
Wir haben an der Zürcher Bahnhofstrasse die
Luft in verschiedenen Gebäuden gemessen. Das Resultat war, dass die Luft drinnen etwa drei bis acht Mal schlechter war als die Luft draussen.
Und was
folgern Sie daraus?
Dass Minergie ein Unsinn ist. Minergie ist ein sehr
anschauliches Beispiel für meine Überzeugung, die lautet: Wenn wir die falschen
Dinge perfekt machen, dann handeln wir perfekt falsch. Wir versiegeln die
Gebäude und vergessen dabei, dass die Innenräume gar nicht für diese Bauweise
konzipiert worden sind. Wir verbringen etwa 80 Prozent unseres Lebens in
Gebäuden. Asthma ist die häufigste Kinderkrankheit.
Wie kann man das ändern?
Ich habe in New Orleans zusammen mit meinem
Partner William McDonough und Brad Pitt Häuser für Menschen gebaut, die beim
Hurrican Katrina alles verloren hatten. Darunter waren 76 Kinder mit Asthma. In
den neuen Häusern hat keines davon mehr darunter gelitten. Man kann mit
intelligenter Architektur (McDonough ist Architekt, Anm. d. Red) und qualitativ
hochstehenden Rohstoffen Häuser bauen, die nicht krank machen – auch für ganz
normale Menschen.
Sie setzen
sich für eine hedonistische Ökogesellschaft ein, eine umweltgerechte Gesellschaft,
die weder auf Moral noch auf Verzicht gebaut ist. Kann man diese Vision in
die Praxis umsetzen?
Wir müssen alles nochmals neu erfinden. Dazu
gehört auch das von der Religion vermittelte Menschenbild. Die Religion sagt
dir: Du bist schlecht, und nur der liebe Gott kann dich erlösen. Dieses Denken
wird fälschlicherweise oft auch von Umweltschützern übernommen. Wenn eine Stadt
wie Zürich das Ziel setzt, klimaneutral zu sein, dann ist das Unsinn.
Klimaneutral kann ich nur sein, wenn ich nicht da bin, wenn der Mensch wie in
der Religion grundsätzlich schlecht ist.
Haben
sie ein Beispiel für ökologischen Hedonismus?
Ich mag Bäume. Bäume sind nicht klimaneutral,
Bäume sind nützlich. Wollen Menschen dümmer als Bäume sein? Es geht darum, die
ganze Weltuntergangs-Diskussion in Innovation umzusetzen. Sonst werden wir
elementare Schlüssel-Industrien verlieren. Gerade in der Schweiz können wir höchste
Qualität herstellen. Wenn man nicht – wie das derzeit der Fall ist – Solaranlagen
verkaufen würde, sondern 20 Jahre Licht einfangen, dann könnte man auch in der
Schweiz wieder Solaranlagen herstellen. Wenn wir aber nur auf den Preis
achten, dann werden billige Solaranlagen aus China aufs Dach montiert, die ihren Wirkungsgrad rasch einbüssen. So packen wir chinesischen Sondermüll auf unsere
Dächer.
Wie
vertragen sich das Cradle-to-Cradle-Prinzip und die Digitalisierung?
Die Digitalisierung ist zwar eine riesige
Chance, aber im Moment ist sie noch ein potemkinsches Dorf. Gags wie
Kühlschränke, die selbst Milch einkaufen, sind eher eine «Dünnitalisierung». In
Deutschland heisst das wahrscheinlich deshalb Digitalisierung, weil der
Wirtschaftsminister so korpulent ist ...
Europa
habe die Digitalisierung verschlafen heisst es. Stimmt das?
Wir haben Umwelt und Gesundheit diskutiert wie
sonst niemand auf der Welt, gerade im deutschsprachigen Raum. In Deutschland
haben wir das schlechte Gewissen aus der Nazizeit auf die Umwelt übertragen und
so der Welt in Sachen Wind- und Solartechnik zwanzig Jahre geschenkt. Wenn wir
Umwelt und Gesundheit mit Digitalisierung verbinden, dann sind wir absolute
Weltspitze. Das müssen wir nutzen. Wir können nicht warten, bis auch China drei
bis vier Jahrzehnte den Weltuntergang diskutiert hat.
Es gibt viele Menschen, die sehr sinnvolles von sich geben, nur leider finden sie in der Politik kein Gehör.
Wir müssen es wagen innovative Leute zu wählen!