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In seinem Buch The Better Angels of your Nature weist Steven Pinker, Psychologie-Professor an der Harvard University, nach, dass die Menschheit noch nie so friedlich war wie im 21. Jahrhundert. Als Beweis führt er folgende Zahlen an: Im Jahr 2012 starben bloss 0,7 Prozent aller Menschen einen gewaltsamen Tod. Im 20. Jahrhundert waren es noch zwischen 1-2 Prozent, im Mittelalter waren es 2-5 Prozent und in der Steinzeit waren es 10-20 Prozent.
Die amerikanische Wissenschaftsjournalistin Elizabeth Kolbert kommt derweil in ihrem Buch The Sixth Extinction zum Schluss, dass die Menschheit im Begriff ist, sich selbst auszurotten. Die Fauna in den Anden beispielsweise, die wegen ihrer extremen Höhenlage besonders bedroht ist, könnte schon 2050 um einen Drittel reduziert sein. Verheerende Folgen hat auch die Versauerung der Weltmeere. Das weltberühmte Barrier Reef in Australien wird es bald nicht mehr geben. Geht die Entwicklung so weiter, so Kolbert, dann wird der Planet Erde veröden und es werden «riesige Ratten unser Erbe antreten».
Gegensätzlicher könnten die Prognosen über die Zukunft der Menschen nicht sein. Doch wer hat Recht? Schauen wir uns die Argumente der beiden Seiten genauer an. Eine sehr gute Zusammenfassung der Denkweise der Optimisten liefern Kishore Mahbubani und Lawrence Summers in der neuesten Ausgabe des Magazins «Foreign Affairs». Mahbubani ist Professor an der National University in Singapur, Summers an der Harvard University.
Die beiden knüpfen indirekt an die berühmte These vom Ende der Geschichte an, die Francis Fukuyama schon in den 1990er Jahren formuliert hat. Ausgangspunkt war damals der Sieg des Westens über den Osten im Kalten Krieg. Das gilt gemäss Mahbubani/Summers heute mehr denn je:
Und weiter: «Sie wollen, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten, dass sie einen guten Job ergattern und dann ein glückliches und produktives Leben führen als Mitglieder einer stabilen und friedlichen Gemeinschaft. Anstatt in eine Depression zu verfallen, sollte der Westen seinen phänomenalen Erfolg feiern. Es ist ihm gelungen, die zentralen Punkte seiner Weltanschauung in alle Zivilisationen einzupflanzen.»
Und was ist mit Syrien und dem «IS»? Was mit Putin? Was mit dem neuen Nationalismus? Was mit dem «Krieg der Zivilisationen», wie ihn der verstobene Politologe Samuel Huntington beschrieben hat? Das seien nicht mehr als vorübergehende Störungen, glauben Mahbubani/Summers und erläutern dies am Beispiel des Islam. Weltweit gibt es heute 1,6 Milliarden Muslime. Die überwiegende Mehrheit träumt nicht von einem Kalifat, sondern von einem Leben in der Mittelschicht.
Das äussert sich im veränderten Rollenverständnis der Geschlechter: Im muslimischen Malaysia beispielsweise sind 65 Prozent der Studenten weiblich. Selbst in den erzkonservativen Golfstaaten ist ein Wandel sichtbar. Dort werden Filialen von westlichen Universitäten eröffnet. «Die grosse Herausforderung ist daher nicht der Islam als solcher», stellen Mahbubani/Summers fest. «Sie besteht darin, dass wir herausfinden müssen, wie wir den Modernisierungstrend verstärken und den radikalen Trend eindämmen können.»
Die Gefahr der aufstrebenden neuen Supermacht China hält sich ebenfalls in Grenzen. Auch im Reich der Mitte ist eine Mittelschicht entstanden. Ihr Lebensstil orientiert sich am Westen, ohne dabei ihre Tradition zu verleugnen.
Und weiter schreiben die beiden: «Die chinesische Kultur ist viel zu reichhaltig, um von einer universalen Kultur absorbiert zu werden. Doch ein sich modernisierendes China wird in vielen Bereichen Überschneidungen zum Westen haben, das zeigt die rasche Ausbreitung der klassischen Musik. 2008 haben 36 Millionen chinesische Kinder Klavierstunden genossen, sechsmal so viele wie in den USA. 50 Millionen Kinder lernten Geige spielen. In einigen chinesischen Städten sind 15 Opernhäuser jeden Abend ausverkauft.»
Der aktuelle Vormarsch der Nationalisten und Populisten im Westen sei deshalb ein vorübergehendes Phänomen, so Mahbubani/Summers. Längerfristig werde es zu einer friedlichen Überlappung der Zivilisationen kommen. Gleichzeitig werde der technische Fortschritt eine Ökokatastrophe verhindern. Alles in allem stünde der Menschheit eine glorreiche Zukunft bevor.
Ganz anders die Pessimisten. Für sie sind die Reiter der Apokalypse wieder unterwegs, und sie werden uns Naturkatastrophen, Flüchtlingsströme, Verwüstung und Krieg bringen. Der Historiker Ian Morris etwa stellt in seinem Bestseller Why the West Rules for Now fest, dass die Menschheit sich an einem Wendepunkt befindet: «Das Paradox der Entwicklung schafft gelegentlich eine harte Decke, die sich nur durch eine wahrhafte Transformation der Gesellschaft durchbrechen lässt», schreibt Morris. «Gelingt es der Gesellschaft nicht, diese Decke zu durchschlagen, dann erleidet sie eine Häufung von schlimmen Dingen – Hunger, Epidemien, unkontrollierte Migration und Staatsversagen. Dieser Niedergang kann in einem katastrophalen, jahrhundertelangen Kollaps und in einem neuen Mittelalter enden.»
Die Klimaerwärmung ist zu einem die Menschheit bedrohenden Problem geworden. Daran können die jüngsten Erfolge am Pariser Klimagipfel nicht hinwegtäuschen. «Es reicht nicht, die Emissionen zu stabilisieren und jährliche Erhöhungen des Ausstosses von Kohlenwasserstoff zu verhindern», stellen die beiden ausgewiesenen Experten Gernot Wagner und Martin Weitzman in ihrem Buch «Climate Shock» fest.
Der Klimaschock entwickelt sich immer stärker zur Triebfeder der weltweiten Migration. Eine verheerende Dürre war einer der Gründe für den Bürgerkrieg in Syrien und die damit verbundenen Flüchtlingsströme. Auch in Afrika ist eine andauernde Trockenperiode der Grund, weshalb die Bauern ihre Dörfer verlassen und sich auf den Weg nach Europa machen. Die Globalisierung der Wirtschaft und der technische Fortschritt sorgen dafür, dass sich die Wachstumsschere immer weiter öffnet. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat in seinem Besteller Das Kapital des 21.Jahrhunderts aufgezeigt, dass die Konzentration des Reichtums im Westen bald wieder das Ausmass der Feudalgesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg erreicht hat.
Wie grotesk die Einkommensunterschiede mittlerweile geworden sind, zeigt die soeben veröffentlichte Hitparade der Hedge-Fund-Manager. Die 25 am meisten verdienenden Manager haben letztes Jahr zusammen rund 13 Milliarden Dollar einkassiert. Kenneth Griffin von der Citadel Investment Group sahnte allein 1,7 Milliarden Dollar ab.
Der neue Geldadel destabilisiert die Gesellschaft. Das hat Hollywood längst begriffen. Filme wie «The Hunger Games« schildern eine dystopische Welt, in der eine schmale Elite in einem unglaublichen Reichtum schwelgt, streng abgeschottet von einer verelendeten Mittelschicht. Der technische Fortschritt befeuert diese Entwicklung zusätzlich. Fast täglich können wir derzeit auf allen Medienkanälen verfolgen, welch verheerende Folgen die Vierte Industrielle Revolution auf unsere Arbeitsplätze haben wird. Der US-Ökonom Tylor Cowen geht in seinem Bestseller Average is Over davon aus, dass bald vier von fünf Erwerbstätigen nicht mehr gebraucht werden. Die Prekarisierung der Arbeitsplätze ist überall im Gang, auch in der Schweiz.
Die Politik beginnt auf diese Entwicklung zu reagieren. Nationalismus und Populismus sind im Westen auf dem Vormarsch. Ob Donald Trump in der USA, Marine Le Pen in Frankreich oder Frauke Petry in Deutschland, überall lässt sich ein neuer, noch vor kurzem unvorstellbarer Wohlstands-Faschismus beobachten, auch in der Schweiz: Roger Köppel und Christoph Blocher schrecken nicht mehr zurück, Hermann Göring zu verteidigen, respektive die SVP mit den Juden im Holocaust zu vergleichen.
So, wer hat also Recht? Die Optimisten mit ihrem friedlichen Überlappen der Kulturen oder die Pessimisten mit ihren apokalyptischen Reitern? Die Frage ist falsch gestellt. Wir befinden uns am Ende eines grossen Zyklus und stossen an eine harte Decke. In diesem Punkt hat der Historiker Morris Recht. Das internationale Finanzsystem ist wacklig geworden, der Backlash gegen eine globalisierte Wirtschaft ist in vollem Gang, und wie ein Zombie steigt der Nationalismus wieder aus seinem Grab. So gesehen befindet sich die Menschheit in einer ähnlichen Lage wie vor dem Ersten Weltkrieg, und es braucht schon sehr viel Fantasie, um dies alles – wie die Optimisten dies tun – als eine Art Kinderkrankheit der neuen digitalen Welt zu betrachten, die sich bald auswachsen wird.
Weder der Neoliberalismus noch eine progressive Variante des Sozialstaates werden die sich abzeichnenden Probleme lösen können. Wir brauchen eine grosse Transformation, denn in einer begrenzten Welt kann die Wirtschaft nicht unbegrenzt wachsen, auch nicht «qualitativ». Und wer glaubt, man könne die sich abzeichnenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt allein mit mehr Bildung und Fachkräften lösen, der wird sich auf einen Schock gefasst machen müssen.
Wie aber lässt sich die Katastrophe des Ersten Weltkrieges diesmal verhindern? Dezentralisierung ist das Zauberwort. Die Nebenwirkungen einer globalisierten Wirtschaft sind heute schädlicher geworden als die Vorteile, und zwar ökonomisch, ökologisch und politisch. Ökonomisch, weil nur eine schmale Elite davon profitiert, ökologisch, weil das herumkarrren von Gütern um die Welt nicht mehr zu verantworten ist, und politisch, weil die dadurch erzeugten Wutbürger den Rechtspopulisten in die Hände spielen.
Der Schlüssel zu einer dezentralisierten Wirtschaft liegt im Energiesektor. Das sehen inzwischen selbst die Betonköpfe der Stromwirtschaft. So hat der ehemalige Alpiq-Chef Hans Schweickardt kürzlich in der NZZ unmissverständlich erklärt:
Eine dezentrale Energieversorgung könnte zusammen mit dem Internet die Grundlage für eine sich abzeichnende Wirtschaftsordnung der Zukunft bilden. Einer Wirtschaftsordnung, die dank der fortschreitenden Digitalisierung auf eine globale Supply Chain und ihre schädlichen Nebenwirkungen verzichten kann und sich nicht mehr in die Dienste eines ausbeuterischen Geldadels stellen, sondern den Menschen dienen wird.
(Gestaltung: Anna Rothenfluh)