Natürlich müssen wir zuerst über die Rendite der 10-jährigen US-Staatsanleihen, den T-Bonds, sprechen. Sie ist in den letzten Tagen geradezu explodiert. Was geht da ab?
James Johnstone: Zuerst haben die Märkte eine Rezession der amerikanischen Wirtschaft erwartet, dann schwärmten alle plötzlich von einem Softlanding – und nun hat der Wind erneut gedreht.
Weshalb? Die amerikanischen Konsumenten kaufen nach wie vor, als gäbe es kein Morgen, und es gibt genügend neue Jobs.
Ja, aber die Staatsverschuldung wächst, und die Geldpolitik der Fed ist härter geworden. Das lässt den Dollar erstarken und die Rendite der T-Bonds ansteigen.
Ist das alles?
Nein. Es gibt derzeit nicht genügend Käufer für die T-Bonds. Russland, China, Saudi-Arabien lassen die Finger davon – und sie alle waren traditionell wichtige Käufer. Im Zuge eines sogenannten De-Riskings sind auch die Banken vorsichtiger geworden.
Kurz gesagt: Es gibt ein Nachfrage-Problem?
Genau, und die Gesetze des Markts besagen nun mal, dass dann der Preis steigt, im Fall der T-Bonds ist dies die Rendite. Zudem hat der rasante Rendite-Anstieg die Finanzwelt auf dem falschen Fuss erwischt.
Dabei ist das Jahr für die Finanzwelt bis anhin überraschend gut verlaufen. Weshalb der Stimmungsumschwung?
Wir hatten nun eine lange Zeit von sehr niedrigen Leitzinsen. Man hat sich ganz einfach noch nicht an die neuen Umstände gewöhnt, vor allem nicht an die Inflation. Dazu kommt, dass in den westlichen Staaten immer noch viele erwerbsfähige Menschen noch nicht wieder in die Arbeitswelt zurückgekehrt sind. Im Gegensatz übrigens zu China. Dort war die Rückkehr an den Arbeitsplatz überwältigend.
Dafür haben die Chinesen eine rekordhohe Jugendarbeitslosigkeit.
Das wird ein vorübergehendes Phänomen sein. Wir im Westen hingegen haben zu wenig Junge, die in die Arbeitswelt eintreten. Das und die unterbrochenen Lieferketten sind ein wichtiger Grund für die Inflation. Dazu kommt noch der Krieg in der Ukraine. Kriege sind immer Inflationstreiber. Und der Kampf gegen die Klimaerwärmung. Wir haben in den letzten paar Jahren fünf Billionen Dollar dafür ausgegeben. Wir leben heute in einer ganz anderen Welt als vor dem Lockdown.
In dieser Welt seien die Schwellenländer die grossen Gewinner, lautete Ihre These, als wir uns das letzte Mal unterhielten. Trifft dies immer noch zu? Die «Financial Times» hat soeben gemeldet, dass die Wirtschaft der asiatischen Länder so schlecht dran sei wie schon lange nicht mehr.
Das trifft für die reichen asiatischen Staaten zu, Länder wie Taiwan und Südkorea. Sie leiden darunter, dass die Nachfrage nach Chips und elektronischen Geräten massiv eingebrochen ist.
Und nochmals: Was ist mit China?
Die Regierung setzt alles daran, dass die Wirtschaft weniger von Investitionen in die Infrastruktur abhängig ist und will den Konsum ankurbeln.
Das höre ich nun seit mindestens zehn Jahren.
Ja, aber diesmal meinen sie es ernst. Sie fahren keine riesigen Fiskalpakete, sogenannte Bazookas, auf, sondern sie setzen alles daran, eine Wirtschaft zu konstruieren, in der der private Konsum eine treibende Rolle übernimmt. Und vergessen wir nicht: Über die vergangenen Jahrzehnte gesehen hat die Bank of China einen überragenden Job gemacht. Ich, auf jeden Fall, würde nie gegen sie wetten.
Was haben die Chinesen besser gemacht als der Westen?
Die Chinesen haben viel früher damit begonnen, überflüssiges Geld aus dem System abzuziehen. Wir hingegen haben Billionen von Dollars ins System gepumpt – und wundern uns nun, dass wir Inflation haben. Die Zentralbanken der meisten Schwellenländer hingegen haben die Leitzinsen schon früh angehoben, manche in den zweistelligen Bereich. Die Brasilianer, beispielsweise, aber auch die Chilenen.
Ist es zu einer Art Rollenvertauschung von Industrie- und Schwellenländern gekommen?
Das kann man so sehen. Dazu kommt, dass auch die Demografie für die Schwellenländer spricht. Anders als wir haben sie – mit Ausnahme von China – eine überwiegend junge Bevölkerung. Länder wie Bangladesch und Vietnam profitieren auch davon, dass die Chinesen dort im grossen Stil investieren, weil die chinesischen Löhne bereits zu hoch geworden sind.
Was für eine Rolle spielt Indien in Ihren Überlegungen?
In den letzten Jahren war Indien eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Der zweite Sektor, die Industrie, wird ein wichtiger Faktor dieser Erfolgsgeschichte bleiben. Um die Abhängigkeit von China zu vermindern, verlegt Apple bereits Fabriken nach Indien. Allerdings, Indien ist ein riesiges Land und hat mittlerweile am meisten Einwohner.
Und – anders als China und Vietnam – Indien hat eine schlecht ausgebildete Bevölkerung. Die indischen Volksschulen haben einen miserablen Ruf.
Das ist richtig. China ist in der Lage, 750 Millionen gut ausgebildete Arbeitskräfte zu mobilisieren. Es konnte daher den Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft bewältigen. Um die Klimaerwärmung und viele andere Probleme in den Griff zu bekommen, brauchen wir neue Produktionsstätten mit gut ausgebildeten Arbeitskräften. Bisher hat China das bieten können. Aber wer wird die Lücke füllen, wenn China diese Rolle nicht mehr spielt?
Unter dem Stichwort De-Risking versuchen alle westlichen Länder, ihre Abhängigkeit von China zu vermindern. Wer springt in die Lücke?
Länder wie Vietnam, Mexiko oder auch Marokko. Aber ob sie die Lücke auch ausfüllen können, bleibt abzuwarten.
Vielleicht brauchen wir gar keinen China-Ersatz. Wir haben jetzt ja Künstliche Intelligenz (KI). Oder nicht?
KI wird möglicherweise viele Ärzte, Anwälte und andere Dienstleister arbeitslos machen. Aber KI wird keine T-Shirts und Jogging-Kleider zusammenschneidern. Möglicherweise werden 3D-Printing und andere Dinge auch diese Prozesse effizienter machen. Doch Länder wie Bangladesch sind in dieser Hinsicht schon sehr weit entwickelt. KI wird – wenn überhaupt – eine Bedrohung für den Dienstleistungssektor im Westen.
Wie beurteilen Sie die Lage in Europa?
Ich befürchte, man hat noch nicht richtig erkannt, was in den Schwellenländern abgeht. Der Welt mangelt es an zwei Dingen: junge Arbeitskräfte und Rohstoffe. Beides findet man in den Schwellenländern. Vietnam und Bangladesch sind erfolgversprechende Beispiele. Interessant wird sein, wie sich Afrika entwickeln wird.
Wie wird sich Afrika entwickeln?
Südafrika zeigt hoffnungsvolle Ansätze. Die Volksschulen sind ziemlich gut. Derzeit haben sie noch ein Problem mit ihrem Stromnetz. Das sollte sich jedoch dank der erneuerbaren Energie lösen lassen. Auch Äthiopien, Kenia und Tansania entwickeln sich in die richtige Richtung. In Nordafrika gilt es Marokko zu erwähnen. Dort werden im laufenden Jahr mehr Autos hergestellt als in Frankreich.
Grosse Ambitionen hegen auch die Golfstaaten. Saudi-Arabien will das neue Europa werden, Dubai ein führendes Finanzzentrum. Was ist davon zu halten?
Geld ist bekanntlich wichtig – und am Persischen Golf ist sehr viel Geld vorhanden.
Wegen des hohen Ölpreises?
Real gesehen ist Öl nach wie vor relativ billig. Trotz hoher Inflation liegt der Preis für ein Fass Erdöl immer noch unter dem Spitzenwert, der 2008 erreicht wurde. Die Golfstaaten wollen nun im Verbund mit Russland einen Ölpreis von 100 Dollar pro Fass durchsetzen. Sie wollen ihr Öl auch verkaufen, solange dies noch möglich ist. Gleichzeitig versuchen sie, dem Beispiel von Singapur und Hongkong zu folgen. Sie wollen die Golfregion in einen Knotenpunkt für Handel und Finanzen machen. Gleichzeitig forcieren sie auch den Ausbau des Tourismus.
Die neue Weltordnung beginnt, Formen anzunehmen. Was könnte sie aus der Bahn werfen?
Ein Krieg wie in der Ukraine. Ich halte es jedoch für wenig wahrscheinlich, dass es einen ähnlichen Krieg um Taiwan geben wird. Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den USA und China ist viel zu gross, als dass sie aufs Spiel gesetzt werden könnte. Das ist anders als bei Russland. Die Mehrheit der Russen ist nach wie vor mausarm und hat daher nichts zu verlieren. Das ist übrigens ein Grund, weshalb Putin die Invasion der Ukraine angeordnet hat. Deren Wirtschaft hat sich sehr gut entwickelt.
Wo sehen Sie sonst noch mögliche Konfliktpunkte?
Enorm wichtig wird sein, wer ins Weisse Haus einziehen wird.
Und wer wird es Ihrer Einschätzung nach sein?
Wenn es wieder ein Duell zwischen Biden und Trump sein wird, dann kann man heute keine Prophezeiung machen.
Was macht Ihnen derzeit am meisten Sorgen?
Ein unkontrolliertes Handeln des Fiskus im Westen. Regierungen geben das Geld aus, das ihre Notenbanken drucken. Wie zum Teufel wird Europa künftig seine Altersvorsorge finanzieren? Wenn es nur mittels der Gelddruckerpresse geschieht, dann werden wir dereinst unser blaues Wunder erleben. Einen Vorgeschmack haben wir bereits im Vereinigten Königreich erlebt, als die Finanzmärkte heftig auf Pläne von Liz Truss reagiert haben. Wir erleben es derzeit mit den erwähnten Renditen auf den amerikanischen und deutschen Staatsanleihen. Mir macht ein Kontrollverlust auf den westlichen Finanzmärkten tatsächlich Sorgen.
Die obligatorische Schlussfrage: Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz in dieser neuen Weltordnung?
Als Festung der Stabilität steht die Schweiz sehr gut da. Sie kann von der generellen Unsicherheit nur profitieren. Dank der neu formierten UBS werden noch mehr reiche Menschen zur Schweiz als sicheren Hafen schauen. Und ihr habt eine wunderbar solide industrielle Basis.
Nunja, ob ein "Experte", der nicht einmal den Namen der chinesischen Zentralbank kennt, vertrauenswürdig ist, wird wohl jeder selbst entscheiden müssen.
Die Bank of China ist eine staatsnahe Grossbank. Die chinesische Zentralbank heisst People's Bank of China (PBOC).
Ich würde allerdings auch nicht gegen sie wetten. Nicht weil's in China so gut läuft. Sondern weil der Yuan nicht frei konvertierbar ist und die PBOC den Markt manipuliert.