Von Madrid über Valencia bis zu den Balearen – bei den Regionalwahlen ist eine linke Hochburg nach der anderen ins rechte Lager geschwappt.
Auf diese Veränderung der politischen Landkarte reagierte der sozialistische Regierungspräsident Pedro Sánchez mit der Auflösung des Parlaments und vorgezogenen Parlamentswahlen am 23. Juli. Dann wird sich zeigen, ob sich der «Sanchismo» halten kann.
Frau Macher, wie kam es zu dieser Schlappe der Sozialdemokraten?
Die Opposition hat konsequent auf das Motto «Wider den Sanchismo» gesetzt. Unter diesem Etikett fasst sie alles zusammen, was ihrer Auffassung nach für eine schlechte Regierung und ein «falsches Spanien» steht.
Was steht in den Augen der Opposition für ein «falsches Spanien»?
Dazu gehören zum Beispiel die Querelen innerhalb der Regierungskoalition. Zudem wird der Linkskoalition von der Opposition unterstellt, die separatistischen und regionalen Parteien aus Katalonien und dem Baskenland zu unterstützen. In dieser aufgeheizten Stimmung hatte die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) keine Chance, mit den Erfolgen ihrer Regierung zu punkten, weder mit der Erhöhung des Mindestlohns noch mit der kürzlich verabschiedeten Mietpreisdeckelung.
Hat sie der sogenannte rechte Tsunami abgezeichnet oder ist dieser unerwartet gekommen?
Ganz unerwartet kam er nicht. Mit einem Erstarken der konservativen Partido Popular hat man gerechnet. Was überrascht hat, war die Vehemenz und der starke Zuwachs von der rechtspopulistische und europaskeptische Partei Vox. Dieses deutliche Votum ist eine Ohrfeige für die spanische Linkskoalition, das Konsequenzen nach sich ziehen musste. Aber die Radikalität des Schritts – die vorgezogenen Neuwahlen – hat Spanien überrascht.
Hat es eine ähnliche Situation in Spanien schon mal gegeben?
Seit dem Tod des Diktators Franco 1975 gab es bisher acht vorgezogene Parlamentswahlen, zuletzt 2019. Damals hatte Pedro Sánchez den konservativen Ministerpräsident Mariano Rajoy, dessen Partei in einen grossen Korruptionsskandal verstrickt war, in einem Misstrauensvotum gestürzt. Um sich eine parlamentarische Mehrheit zu sichern, waren wegen des stark fragmentierten Parlaments damals allerdings zwei Wahlgänge notwendig.
Sánchez hat nun nicht mehr viel Zeit, die Bevölkerung zu mobilisieren. Ist seine Entscheidung nicht ein politischer Selbstmord?
Er geht damit zumindest ein sehr grosses Wagnis ein und setzt alles auf eine Karte. Sein Kalkül: Durch die Verkürzung der Zeit bis zu den Wahlen hat die Rechte weniger Zeit, ihren Sieg auszubauen. Ausserdem wird der Wahlkampf in die Zeit fallen, in der die konservative Partido Popular auf kommunaler und regionaler Ebene teils Koalitionen mit der rechtsextremen Vox schmieden muss. Das ist für viele Wähler der Linken ein Schreckgespenst. Sánchez hofft, diese Wählerschaft für sich mobilisieren zu können. Mit dem vorgezogenen Wahltermin spricht Sánchez ein Machtwort und sagt: «Rauft Euch zusammen, sonst haben wir keine Chance.»
Ist es überhaupt eine gute Idee, Parlamentswahl mitten in den heissen Sommermonaten durchzuführen?
Das könnte für die Wahlbeteiligung tatsächlich zum Problem werden. Der Juli ist in den Mittelmeerregionen der heisseste Monat des Jahres. Viele sind in der zweiten Juli-Hälfte schon im Urlaub und müssen Briefwahlen beantragen, die ersten haben das bereits gestern schon gemacht. Populär ist das Datum nicht – gerade die Wählerschaft von Sánchez könnte es zusätzlich demotivieren.
Die Arbeitslosigkeit in Spanien hat stark abgenommen, die Wirtschaft wächst schneller als in anderen EU-Ländern, die Inflation fällt. Dennoch ist Sánchez nicht sonderlich beliebt. Warum?
Ihm wird ein autoritärer Führungsstil angekreidet. Ausserdem hat die Katalonienkrise vor fünf Jahren Spanien stark polarisiert. In diesem Klima konnte die Opposition das Feindbild des «Sanchismo» schmieden. Themen aus der Lebenswirklichkeit der Menschen, etwa die steigenden Mietpreise in den Grossstädten oder die Klimakrise, haben beim Wahlkampf kaum eine Rolle gespielt. Allerdings fällt nicht die gesamte Koalition in der öffentlichen Wahrnehmung durch. Arbeitsministerin Yolanda Díaz führt seit Monaten das Ranking der beliebtesten Politikerinnen an.
Hat die Pandemie zu dieser negativen Entwicklung beigetragen?
Auf jeden Fall. Die Linkskoalition ist seit Anfang 2020 offiziell im Amt. Wenige Wochen darauf begann die Corona-Pandemie deren erste Welle Spanien hart erwischte. Die Regierung hat in Spanien einen der härtesten Lockdowns Europas durchgesetzt – mit einem sieben Wochen langen «Hausarrest», während dem die Spanierinnen und Spanier ihre Wohnung nur zum Einkaufen und zur Arbeit verlassen durften. Kaum war die Pandemie überstanden, begannt der Ukraine-Krieg. Dazu kommt die Klimakrise, deren Folgen durch Dürre und Extremwetter inzwischen überall zu spüren sind. Auch wenn die wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und Ukraine-Krieg für Spanien dank grosszügig verlängerter Kurzarbeit, EU-Hilfen und Mechanismen wie Gaspreisdeckelung weniger dramatisch sind als befürchtet, werden Sánchez und seine Linkskoalition nicht als erfolgreiche Krisenmanager, sondern als Sinnbild der Krise wahrgenommen.
Dabei hat Spanien sich zum Vorreiter der progressiven Gesellschaften entwickelt. Trifft Sánchez mit seiner Frauen- und Gleichstellungspolitik nicht den Zahn der Zeit?
Spanien hat bereits unter der sozialistischen Regierung Zapatero, der von 2004 bis 2011 Spaniens Ministerpräsident war, von mit seinen Gesetzen gegen geschlechtsspezifische Gewalt europaweit Zeichen gesetzt. Durch das Erstarken von Vox seit 2019 stehen diese Errungenschaften allerdings wieder auf dem Prüfstand. Die Frauen- und Gleichstellungspolitik der Regierung Sánchez hat es aber auch aus einem anderen Grund schwerer als die seines Vorgängers: Sie geht überwiegend auf die Ministerin Irene Montero zurück.
Ihre Verschärfung des Sexualstrafrechts hat über die Landesgrenzen hinaus hohe Wellen geschlagen.
Ja, ihr «Ja-ist-Ja»-Gesetz musste wegen konzeptioneller Fehler nachträglich mit Stimmen der Opposition repariert werden, was ihr den Ruf einbrachte, inkompetent zu sein. Zugleich hat das Transsexuellen-Gesetz, das allen Menschen über 16 Jahren eine Änderung des Geschlechts im Personenregister durch einen einfachen Gang zum Amt ermöglicht, auch sozialistische Feminist:innen verärgert: Ihnen ging das zu weit. Einem grossen Teil der Bevölkerung wiederum schienen die intensiven Debatten um dieses Gesetz wiederum schlicht als «lebensfremd».
Und dies bewegt die Bevölkerung dazu, das Lager zu wechseln?
Die Unterstützung speist sich aus Unzufriedenheit und Ärger über eine Regierung, die als zu radikal empfunden wird: wegen der Unterstützung durch separatistische Parteien, wegen ihres Vorpreschens bei feministischen Themen. Eine Rolle dabei könnte auch die Sehnsucht nach ruhigeren, weniger krisengeprägten Zeiten gespielt haben – wobei die mehr Wunschvorstellung als Realität ist. Schliesslich hat auch die Finanzkrise 2008 Spanien hart gebeutelt.
Sollte es zu tatsächlich zu einem Rechtsrutsch kommen, würde dies die Wirtschaft wieder schwächen?
Das hängt davon ab, welche Rolle die rechtsextreme Vox bei einer möglichen Rechtskoalition spielen wird. Eine solide Mehrheit der konservativen Partido Popular dagegen könnte gerade bei den grossen, börsenorientierten Unternehmen als stabilisierend wahrgenommen werden. Auf den spanischen Aktienindex hatten die vorgezogenen Parlamentswahlen keinen nennenswerten Einfluss.
Die faschistische Diktatur unter Franco ist bei der älteren Bevölkerung noch immer präsent. Gibt es keine Statements von dieser Altersgruppe gegen einen Rechtsrutsch?
Die rechtsextreme Vox ist vor allem bei jüngeren, männlichen Wählern beliebt. Die ältere Bevölkerung wählt überwiegend eine der beiden grossen Volksparteien, die linke PSOE oder die konservative Partido Popular (PP). Bei den älteren Wählern der PSOE sind Diktatur-Erinnerungen präsent, aber «Nie wieder»-Parolen gibt es (bisher) auch von ihnen nicht. Das liegt auch daran, dass die faschistische Vergangenheit bei Weitem nicht so sehr als Urkatastrophe im kollektiven Gedächtnis verankert ist wie etwa der Nationalsozialismus in Deutschland. Spanien hat nach Francos Tod keinen Bruch mit der Diktatur vollzogen.
Zeigt sich dies daran, dass die Verbrechen des Bürgerkriegs bis heute juristisch nicht aufgerollt wurden?
Ja, das von der Opposition befürwortet Amnestiegesetze verhindert diese Aufarbeitung. Mit der Umbettung Francos aus dem monumentalen «Valle de los Caídos» und dem Gesetz zur demokratischen Erinnerung hat die Linkskoalition zwar wichtige Schritte zur Aufarbeitung der Vergangenheit getätigt, aber die Proteste dagegen zeigen, dass in Spanien für manche die Diktatur immer noch ein positiver Bezugsrahmen ist.
Was ist ihre Einschätzung, kann die rechte Welle in Spanien noch gestoppt werden, die bereits anderen Ländern wie etwa Italien erreicht hat?
Bereits bei den letzten Parlamentswahlen fuhr die rechtsextreme Vox ein starkes Ergebnis ein. Die Resultate vom Sonntag zeigen erneut: Spanien ist nicht immun gegen eine rechte Welle. Ob in der künftigen Regierung Minister einer rechtsextremen Partei sitzen werden, hängt in erster Linie vom Abschneiden der beiden grossen Volksparteien ab. Entweder es gelingt der konservativen Partido Popular, sich auch für Protest- und Frustwähler der rechtspopulistischen Vox als moderate Alternative zu präsentieren – was nicht einfach sein dürfte. Oder die Unterstützung für die PSOE, die regionalen Parteien und die Linksbündnisse ist aus Angst vor dieser «rechten Welle» so stark, dass sie erneut eine parlamentarische Mehrheit stellen können. An der Polarisierung des Landes wird das wenig ändern.
Offensichtlich nicht. Und vielleicht sollte man schon langsam akzeptieren, dass sich für sehr, sehr viele Leute der Zahn der Zeit halt eben doch um andere Dinge dreht. Hier haben wir ja ein gutes Beispiel dafür.
Europa kann wählen zwischen Inflation, einer Eurokrise auf Steroiden oder massiven Schuldenschnitten (mit entsprechend langfristigen Folgen bez. dem Investorenvertrauen). Im Moment wählt man Inflation - das einfache Volk bezahlt. Aber die Leute sind nicht dumm und werden entsprechend EU-Skeptischer.
Besser wären klare Verschuldungsrichtlinien à la Maastricht. Aber wer soll das durchsetzen?