Hochpreisinsel Schweiz: Temu, Shein und Co. stossen die nächste Billig-Welle an
«Die chinesischen Unternehmen verhalten sich in Europa sehr aggressiv, um ihre Ware verkaufen zu können», klagt ein Sprecher des europäischen Textilverbandes Euratex gegenüber der «Financial Times». Der Grund ist für den Verbandssprecher klar: «Sie können ihre Kleider nicht mehr in den USA verkaufen».
Donald Trumps rekordhohe Zölle leiten die chinesischen Kleiderexporte um. Im ersten Halbjahr 2025 seien Chinas Kleider-Exporte in die EU um 20 Prozent gestiegen, vor allem jene von billiger Ware. Schon 2024 gelangte eine Welle von Paketen nach Europa, vor allem aus Asien: 4,6 Milliarden Pakete.
Die Schweiz erlebt ihre eigene Welle. 2025 sind im zweiten Quartal nochmals viel mehr chinesische Kleider ins Land gekommen als im Vorjahresquartal: Die Anzahl Kleider erhöhte sich um rund 29 Prozent, wie Peter Flückiger vom Verband Swiss Textiles sagt. Schon von 2021 bis 2024 sei der Fashion-Umsatz der chinesischen Online-Händler Temu, Shein und Ali-Express «explodiert». Von 2021 bis 2024 ging es von fast Null hoch auf 600 Millionen Franken. Täglich würden Hunderttausende von Paketen aus Asien die Schweiz erreichen.
Diese Welle freut alle, die sich auf der Hochpreisinsel Schweiz über die hohen Kleiderpreise ärgern. Welchen Zuschlag sie dort zahlen, hat das Magazin «Beobachter» kürzlich recherchiert. Demnach verlangen die drei grossen Kleiderhändler C&A, H&M und Zara für die gleiche importierte Ware in der Schweiz viel mehr als in Deutschland: durchschnittlich 64 Prozent mehr.
Die Textilbranche hingegen warnt vor einer «Überproduktion von Kleidung mit extrem kurzer Lebensdauer», einem «beispiellosen Anstieg von Textilabfällen», «unerträglichem Druck auf Unternehmen, die hohe Standards einhalten wollen» und einer «Bedrohung von Läden in allen Städten und einer Entleerung der Zentren».
In Europa wie in der Schweiz haben die Textilverbände deshalb den zuständigen Ämtern geschrieben. Die Forderungen sind ähnlich, die Botschaft im Kern die gleiche: «Die Politik muss handeln.»
Solche Forderungen wurden noch vor Kurzem in der Regel abgelehnt. Es gab einen Konsens, billige industrielle Ware anzunehmen und schlicht Danke dafür zu sagen. Doch in den USA ist dieser Konsens gefallen. Und während gerade die nächste Welle billiger chinesischer Waren anrollt, wankt er in Europa.
Er wankt, weil Chinas Wirtschaft einer Höllenmaschine gleicht. Sie reagiert nicht auf Warnsignale. Sie donnert nur immer weiter vorwärts. Befeuert von billigen Krediten. Tief gehaltenen Löhnen. Gigantischen CO2-Emissionen. Und vom Ehrgeiz lokaler Bürokraten, die alle die gleichen von Peking bevorzugten Industrien bei sich fördern. Die Folge beschreibt das «Wall Street Journal» lapidar so: «China produziert zu viel Zeug.»
Lange Zeit besteht dieses zu viele Zeug vor allem aus Immobilien. Irgendwann werden Millionen von Wohnungen nicht benutzt, neue Hochhäuser gleich wieder gesprengt und die Missstände auch für Xi Jinping zu viel. Chinas Autokrat flucht über «fiktives Wachstum», diktiert den Banken «rote Linien» – und der Boom endet in einem Crash. Symbol dafür wird der Untergang des zweitgrössten Immobilienkonzerns, Evergrande.
Neue Elektroautos zum Preis von Gebrauchtwagen
Danach vollzieht China eine grosse Rotation, weg von Immobilien und hin zu Industrie. Seither produziert China vor allem zu viele industrielle Waren: zu viel Glas, zu viel Stahl, zu viel Kohle, zu viel Zement, zu viel Aluminium, zu viel Solarpanels. Zu viel, zu viel. Für China, oft für die ganze Welt.
Das ist nicht nur für den Rest der Welt ein Problem, sondern auch für China selbst. Es produziert beispielsweise zu viele Elektroautos. Die Schwemme ist so gross, dass viele Hersteller zu Verzweiflungstaten greifen. Sie lassen brandneue Autos, ohne einen einzigen Kilometer auf dem Zähler, als Gebrauchtwagen verkaufen – zu Preisen von Gebrauchtwagen.
Solche Grotesken im Verkauf widerspiegeln sich in Grotesken in den Bilanzen. Das hat die «Financial Times» in einer Analyse der 16 grössten Hersteller festgestellt. Mehr als ein Drittel verdient demnach zu wenig Geld, um bald anfallende Schulden zahlen zu können.
«Eine Phase der Elimination» werde kommen, sagt ein Analyst. BYD, der grösste Hersteller, rüstet sich für eine «grosse finale Schlacht». Der Chef von Konkurrent «Great Wall Motor» meint wiederum BYD, als er sagt: «Es existiert ein Evergrande in Chinas Autosektor. Es ist nur noch nicht explodiert.»
Xi versucht, die Geister einzufangen, die er herbeigerufen hat. So wie er es beim Immobilienboom getan hat. Er lässt die Staatsmedien schimpfen über «verdeckte Preissenkungen, die die Marktordnung stören». Er nennt es «Involution», einen involutionären Wettbewerb, der viel Schaden anrichte, und verordnet: «Die Involution muss dringend wirksam korrigiert werden.»
«China rettet die Welt vor dem Klimawandel»
Genial ist dagegen, wie China die Produktion von grünen Technologien ausweitet. In der Massenproduktion gelingt es China mehr oder weniger im Alleingang, die Kosten von Solarzellen weit nach unten zu drücken, auch von Windturbinen und Elektroautos. So weit nach unten gar, dass die Welt einen Wendepunkt überschreitet.
Grüne Technologien sind heute günstiger als ihre fossilen Konkurrenten. Strom aus Wind oder Sonne kostet weniger als Strom aus Öl oder Kohle. Die Welt muss nicht mehr wählen, ob sie weniger Treibhausgase ausstossen oder günstigen Strom produzieren will. Sie kann beides tun. Der Starökonom Noah Smith schreibt dazu: «China rettet still und leise die Welt vor dem Klimawandel.»
In den USA und in Europa glaubt man lange, Chinas Probleme seien nur Chinas Probleme, nicht die eigenen. Laut Ökonomen profitieren die Konsumenten von billigen Produkten, verdrängte Arbeiter finden neue Jobs oder können vom Staat entschädigt werden. Andere glauben an «Wandel durch Handel». Sprich, China wird sich durch den Handel hin zu westlichen Ideen wandeln. Klingt schön, klingt überzeugend, erweist sich als naiv.
Diese Wohlfühlblase wird erstmals im Jahr 2016 durch die Studie «Der China-Schock» durchgerüttelt. Ihr zufolge verlieren ganze US-Regionen ihre wirtschaftliche Basis, und eine Erholung bleibt aus. Chinas Warenschwemme ist zu gewaltig und zu billig. 2016 kommt Trump ins Weisse Haus, auch mit dem Versprechen an verwüstete Industrieregionen, sie wieder gross zu machen. Trump macht China zum Sündenbock für alles Mögliche.
Trump sauer: China schlägt die USA mit ihren eigenen Waffen
Die Wohlfühlblase platzt endgültig, als Russland die Ukraine angreift und die Europäer von Wladimir Putin eine Lehrstunde erhalten. Sie haben Russland mit ihrem Handel nicht gewandelt. Sie haben sich abhängig gemacht von seinem Öl und Gas. Jetzt werden sie erpresst: Stoppt die Hilfe für die Ukraine oder habt einen kalten Winter.
China kann das auch. Als etwa Litauen seine Beziehungen mit dem von China beanspruchten Taiwan verstärkt, greift es 2021 zu Zwangsmassnahmen. Es sperrt litauische Waren aus – und auch gleich Waren anderer Länder, falls darin litauische Teile verbaut sind. Ähnlich verfährt Peking bei den seltenen Erden.
Neu müssen sich ausländische Unternehmen den Export industrieller Magnete genehmigen lassen, wenn diese auch nur Spuren von aus China stammenden seltenen Erden enthalten. Darüber schimpfen die USA zwar lauthals, China schade so «seinem Ansehen in der Welt». Aber den Trick hat China von ihnen abgeschaut. Die USA nutzen ihre Technologie wie China die Seltenen Erden: Ist US-Technologie drin, sollen US-Regeln gelten.
Jetzt droht ein «weiterer China-Schock», titelt das «Wall Street Journal» kürzlich. Dieser zweite Schock könnte den ersten übertreffen. Der erste Schock ist hart genug, aber damals ist Chinas Wirtschaft kleiner und produziert vor allem zu viele Immobilien. Hochhäuser kann man nicht exportieren. Waren schon. Und davon hat China heute viel zu viel. Soll man sie einfach annehmen, wenn man sie angeboten bekommt? Die Antwort ist lange klar gewesen, heute nicht mehr.
