Normalerweise gehört Polen zu den engsten Verbündeten der Ukraine. Sowohl bei den Waffenlieferungen als auch bei den Russlandsanktionen steht Warschau eng an der Seite von Kiew. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs hat Polen zudem über eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer bei sich aufgenommen.
Jetzt aber kommt es zum handfesten Streit zwischen den beiden Alliierten und zum Stresstest für die Solidarität.
Am Wochenende hat Polen zusammen mit Ungarn und der Slowakei beschlossen, für ukrainische Landwirtschaftsprodukte, vor allem Getreide und Ölsaaten, die Grenzen dichtzumachen. Das billige Getreide aus der Ukraine würde den polnischen Bauern das Geschäft kaputtmachen, so die Argumentation der Regierung in Warschau.
Dass das nicht stimme, hat die ukrainische Wirtschaftsministerin Julia Swiridenko im Interview mit CH Media bereits am Tag zuvor klargestellt und mit dem Gang vor ein Schiedsgericht gedroht. Der polnische Getreideboykott sei «einzig politischer Natur», kritisierte Swiridenko. Hintergrund: Polen befindet sich in der heissen Phase des Wahlkampfes, und die nationalkonservative PiS-Regierungspartei ringt um jede Stimme, besonders unter der bäuerlich geprägten Landbevölkerung.
Nun macht die Ukraine ernst und kündigt an, Polen, Ungarn und die Slowakei vor dem Gericht der Welthandelsorganisation (WTO) zu verklagen: «Es ist wichtig, zu zeigen, dass diese Massnahmen (von Polen) rechtlich falsch sind», so der ukrainische Vize-Wirtschaftsminister Taras Kachka im Interview mit der Newsplattform «Politico». Die Ukraine werde juristische Schritte einleiten. Gleichzeitig bereite man Vergeltungsmassnahmen gegen polnische Gemüse- und Obstimporte vor.
In einer unangenehmen Lage befindet sich nun auch die EU-Kommission in Brüssel. Sie hatte am Freitag das Ende aller Importbeschränkungen für Agrarprodukte beschlossen, welche im Mai aus Rücksicht auf die fünf EU-Nachbarländer der Ukraine eingeführt worden waren. Der offenen Rebellion von Polen, Ungarn und der Slowakei konnte Brüssel aber nichts entgegensetzen. Was bleibt, ist der Eindruck der Uneinigkeit.
Vize-Wirtschaftsminister Kachka legt den Finger in die richtige Wunde, wenn er sagt:
Für internationale Partner gefährde dies das Vertrauen, dass Brüssel in Sachen Handelsangelegenheiten noch für die gesamte EU spreche, so Kachka.
In der EU-Hauptzentrale versucht man, den Streit kleinzureden. Man sei daran, die Massnahmen von Polen, Ungarn und der Slowakei zu analysieren, so eine Sprecherin am Montag. Anscheinend hofft man immer noch, den Konflikt mit einem Kompromiss aus dem Weg zu räumen.
Immerhin hat sich die Ukraine verpflichtet, mit eigenen Exportkontrollen dafür zu sorgen, den europäischen Markt nicht mit Getreide zu überschwemmen. Mit zusätzlichen Garantien wird man nun wohl versuchen, die Polen, Ungarn und die Slowakei wieder an Bord zu holen. Ob das klappen kann, bleibt unklar.
Klar ist: Der Streit zeigt, wie weitreichend die Konsequenzen eines ukrainischen EU-Beitritts für den europäischen Landwirtschaftssektor wären. Die Ukraine ist - trotz Krieg - mit ihrer fruchtbaren Schwarzerde und den riesigen Nutzflächen ein landwirtschaftliches Kraftpaket und würde auf Anhieb zu den grössten Agrarproduzenten in der EU zählen.
EU-Landwirte erhielten somit schmerzhafte Konkurrenz durch die ukrainischen Grossbetriebe. Zudem hätte Kiew Anrecht auf einen substanziellen Teil der milliardenschweren Agrarsubventionen, die rund einen Drittel des gesamten EU-Budgets ausmachen. Gelder also, die anderen EU-Staaten weggenommen werden müssten.