Der ukrainische Präsident weiss, seinen Auftritt im UN-Sicherheitsrat zu nutzen. Genau im richtigen Moment betritt er jenen Raum, in dem das mächtigste Gremium der Vereinten Nationen regelmässig tagt. Der berüchtigte russische UN-Botschafter Wassili Nebensja liefert sich gerade ein Wortgefecht über die Formalitäten der Gastrolle von Wolodymyr Selensyj. Der Russe will nicht akzeptieren, dass der Vorsitzende der Runde, Albaniens Premierminister Edi Rama, dem Ukrainer das Rederecht vor allen anderen Mitgliedern und direkt nach dem UN-Generalsekretär einräumen will.
Für solche Scharmützel über Formalitäten ist Nebensja bei seinen UN-Kollegen bekannt. Auf diese Weise versucht er regelmässig, den Ablauf von Sitzungen zu verzögern, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und die übrigen Anwesenden zu provozieren. Ungerührt von der Diskussion schreitet Selenskyj im tarngrünen Anzug zu seinem Platz, setzt sich schräg gegenüber von Nebensja und hört ihm ruhig zu.
Der beschwert sich weiter: Beim letzten Mal hätten die westlichen Delegationen den ukrainischen Präsidenten per Video zur Sitzung zugeschaltet. «Sie haben behauptet, dass Wolodymyr Selensyj im vergangenen Jahr aufgrund aussergewöhnlicher Umstände das Land nicht verlassen könnte.» Der russische Vertreter ist ein Profi im Zynismus und fährt fort: «Jetzt haben ihn diese ‹aussergewöhnlichen Umstände› nicht davon abgehalten, in die USA zu reisen und Washington zu besuchen.»
Minutenlang ergeht sich Nebensja in solchen Spitzen. Immer wieder äussert er seinen Redewunsch. Der albanische Präsident lässt ihn gewähren, bis es ihm schliesslich zu bunt wird. «Können wir jetzt, mit Ihrem Einverständnis, auf normale Art und Weise mit der Sitzung fortfahren?» Nebensja hatte seine Show und macht mit seinem rechten Zeigefinger eine zustimmende Bewegung.
Schliesslich ist Selenskyj an der Reihe und nutzt seine Rede, um das unwürdige Schauspiel mit der grausamen Realität zu kontern. Doch vor allem nutzt er die Gelegenheit, um um jene Staaten zu werben, die der Meinung sind, dass die Welt ganz andere Probleme hat als den Krieg in der Ukraine. Denn ihre Zahl wächst, das dürfte Selenskyj in diesen Tagen in New York schmerzlich bewusst geworden sein.
Er blickt in Richtung Nebensja und beginnt: «Russland ist ein Staat, der sich aus irgendeinem Grund noch immer unter den Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats befindet». Zehntausende Opfer habe Russland schliesslich zu verantworten, so der ukrainische Präsident.
Dann leitet er über zu einem geschickten Schachzug: Er fordert einschneidende Reformen jenes Gremiums, in dem er gerade sprechen darf. Er weiss, dass er damit nicht allein ist und adressiert so ausgerechnet jene Staaten, denen anderes wichtiger ist als die Ukraine.
Der Krieg in seinem Land könne deswegen nicht beendet werden, weil Russland sein Veto-Recht im Sicherheitsrat missbrauche. Darum müsse die «UN-Generalversammlung die tatsächliche Macht erhalten, das Veto-Recht zu überwinden», sagt Selenskyj. Das werde der erste notwendige Schritt sein. Vertreter der Afrikanischen Union und Asiens, Südamerikas und Ozeaniens bräuchten zudem einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat, fordert der Ukrainer.
Doch er fordert ihn nicht nur für Länder des sogenannten globalen Südens, sondern – und das ist ebenfalls eine Überraschung an diesem Abend – auch für Deutschland. Ausgerechnet dem Land, dessen Regierungschef Olaf Scholz immer wieder vorgeworfen wird, er zögere zu sehr mit seiner Hilfe für die Ukraine. Auch Selenskyj gehörte einst zu diesen Kritikern. Er weiss, dass die Bundesrepublik sich seit vielen Jahren um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat bemüht.
«Wenn man die Veränderungen berücksichtigt, die in Europa stattgefunden haben, ist insbesondere Deutschland zu einem der wichtigsten globalen Garanten für Frieden und Sicherheit geworden», sagt Selenskyj. Das sei eine Tatsache, und es sei «auch eine Tatsache, dass Deutschland einen Platz unter den Mitgliedern des Sicherheitsrates verdient.» Der chinesische Vertreter in der Runde gibt sich währenddessen betont abwesend und blättert in seinen Unterlagen. Russlands Wassili Nebensja tippt derweil Nachrichten in sein Smartphone.
Als Selenskyj geendet hat, bleibt der befürchtete, öffentliche Schlagabtausch zwischen ihm und dem ebenfalls nach New York gereisten russischen Aussenminister Sergei Lawrow aus. Der ukrainische Präsident verlässt den Raum, noch bevor Lawrow auftaucht. Auch das ist ein Statement: Der ukrainische Präsident hat Wichtigeres zu tun, als sich die dann nicht enden wollende Rede des Russen anzuhören.
Eine gute halbe Stunde wiederholt Lawrow die bekannte russische Erzählung, wie es zum Krieg in der Ukraine gekommen sei. Er liest hauptsächlich vom Blatt. Nach dem Ende des Kalten Krieges habe der «kollektive Westen» unter Führung der USA die Sicherheit in der Welt mehr und mehr aufs Spiel gesetzt. Die USA hätten die Ukraine zu einem Vasallenstaat gegen Russland ausbauen wollen.
Aber um die kruden Erzählungen des russischen Aussenministers ist es Selenskyj ohnehin nicht gegangen. Er ist nicht in den Sicherheitsrat gekommen, um sich dessen Rede anzuhören oder um ihn zu überzeugen. Sein Ziel allein war es, öffentlichkeitswirksam für die Unterstützung seines Landes zu werben. In New York hat der ukrainische Präsident das wieder einmal geschafft. Je länger der Krieg andauert, desto schwieriger wird das.
Dies ist schon extrem zynisch. Zum einen, weil es nicht stimmt und zum anderen, weil Russland doch selbst die Ukraine als Vasallenstaat einverleiben möchte. Und dies betrifft nicht nur die Ukraine, sondern alle Länder der ehemaligen Sowjet Union.