Der russische Aussenminister Sergej Lawrow hatte am Sonntagabend einen grossen Auftritt im italienischen Fernsehen. Er gab dem Sender Rete4, der zum Medienimperium des früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi gehört, ein 40-minütiges Interview, das eher ein Monolog war, wie Regierungschef Mario Draghi und andere Politiker am Montag kritisierten.
Denn Lawrow wiederholte die Propaganda-Lüge, die Ukraine werde von Nazis regiert. Das Gegenargument, Präsident Wolodymyr Selenskjy sei ein Jude, liess er nicht gelten: «Ich kann mich irren. Aber Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heisst überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Antisemiten in der Regel Juden sind.»
Diese Aussage sorgte vor allem in Israel für Empörung. Aussenminister Jair Lapid bestellte den russischen Botschafter ein und verlangte eine Entschuldigung. Lawrow propagiere «eine Umkehrung des Holocaust», indem Opfer in Verbrecher verwandelt würden. Tatsächlich steckt der eigentliche Skandal von Lawrows Rundumschlag im letzten Satz.
Zumindest pikant ist Adolf Hitlers angebliche jüdische Abstammung. Zwar relativierte sie Lawrow mit den Worten, er könne sich irren. Aber allein die Vorstellung, der Urheber des industriellen Massenmords an den europäischen Juden habe selber jüdische Wurzeln gehabt, erweckt Fantasien und passt perfekt in die russische Kriegspropaganda.
Neu ist dieses Gerücht nicht, im Gegenteil. Solche Mutmassungen kursierten bereits vor der Geburt des späteren «Führers» 1889 im österreichischen Braunau. Hitlers Grossvater mütterlicherseits, dessen Identität bis heute unbekannt ist, sei «mosaischen Glaubens» gewesen, sollen schon Zeitgenossen gemunkelt haben.
Während Adolf Hitlers politischem Aufstieg in den 1920er und 30er Jahren griffen seine Gegner das Gerücht auf, um ihn und seinen rabiaten Antisemitismus lächerlich zu machen. Hitler war darüber dermassen beunruhigt, dass er seinen Rechtsanwalt Hans Frank mit Nachforschungen zu seiner Herkunft beauftragte.
Frank schilderte sie in seinen Memoiren, die er nach dem Zweiten Weltkrieg im Gefängnis verfasste. Er hatte als Generalgouverneur von Polen ein Schreckensregime errichtet und wurde im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zuvor schrieb er nieder, was er zu Hitlers angeblicher jüdischer Abstammung herausgefunden hatte.
Die Spur führte nach Niederösterreich ins Waldviertel. Dort wurde Adolf Hitlers Vater Alois 1837 als unehelicher Sohn der Dienstmagd Maria Anna Schicklgruber geboren. Als er fünf Jahre alt war, heiratete seine Mutter den Müllerknecht und Herumtreiber Johann Georg Hiedler. Daraus entstand später unter ungeklärten Umständen der Name Hitler.
Laut Hans Franks Schilderungen hatte Maria Anna Schicklgruber ein Jahr in Graz in der Steiermark im Haushalt einer jüdischen Familie namens Frankenberger gearbeitet. Sie sei hochschwanger in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und habe dort ihren Sohn Alois zur Welt gebracht. Bis zu dessen 14. Lebensjahr habe sie von Frankenberger Alimente erhalten.
Die Behauptung ist nicht belegbar.
Spätere Historiker sind dieser Version nachgegangen und haben sie ins Reich der Märchen verwiesen. In Graz hätten Juden damals kein Niederlassungsrecht gehabt. Vermutlich habe Hitlers Grossmutter in Gratzen im heutigen Tschechien gearbeitet. Dort soll ein Kaufmann namens Frankenberger gelebt haben, doch einen konkreten Nachweis gibt es nicht.
Auch für die angeblichen Unterhaltszahlungen gibt es keine Beweise. Als wahrscheinlich gilt heute, dass Johann Georg Hiedler der leibliche Vater von Alois Hitler war. Er soll sich laut Zeugenaussagen dazu bekannt haben, wenn auch nie offiziell. Jahre später wurde der Taufeintrag von Alois Hitlers Geburt entsprechend geändert, von unehelich zu ehelich.
Alois selbst nannte sich erst ab 1876 Hitler. Zuvor trug er den Namen seiner Mutter, was in der Nazizeit zu Witzen und spöttischen Bemerkungen («Heil Schicklgruber!») führte. Was Adolf Hitler von den Mutmassungen über seine Herkunft hielt, ist Gegenstand unzähliger Spekulationen, bis zur gewagten These, der Holocaust gehe auf eine Art Selbsthass zurück.
Seinen Vater schilderte der «Führer» als streng und jähzornig. Vermutlich wurde er von ihm geschlagen, schrieb der österreichische Historiker Roman Sandgruber in seiner letztes Jahr veröffentlichten Biografie von Alois Hitler. Das Gerücht über die vermeintlich jüdischen Ahnen basiere «auf einer Reihe komischer Fehler», sagte Sandgruber dem «Spiegel».
«Diese Thesen sind in der Welt und – wie alle Mythen – nicht auszulöschen», meinte Sandgruber. «Sie geistern unausrottbar durch die Weltgeschichte.» Und lassen sich nach wie vor für Propaganda ausschlachten, wie Sergej Lawrows Auftritt zeigte. Zur Kritik aus Israel erklärte er, die Regierung in Jerusalem unterstütze das «Neonazi-Regime in Kiew».
…zumindest wenn man unserem peinlichen Bundesueli Glauben schenken möchte 🙄🤡