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Krieg aufgehalten: Kann Finnland ein Modell für die Ukraine sein?

Wie Finnland 1944 den Krieg gegen Russland nicht verlor – ein Modell für die Ukraine?

13.03.2024, 17:1014.03.2024, 10:49
Peter Mertens, MILAK/ETHZ
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Finnlands Kampf gegen die UdSSR im Zweiten Weltkrieg bietet ein Muster dafür, wie sich ein militärischer David gegen einen militärischen Goliath behaupten kann. Eine Hauptrolle spielt dabei die Schlacht von Tali‐Ihantala. Vor allem dort brachte Finnland im Sommer 1944, vor 80 Jahren, die sowjetische Offensive zum Scheitern und legte dadurch den Grundstein für sein langfristiges Überleben als Staat.

In der grössten Schlacht der nordischen Geschichte kämpften 50’000 Finnen (und 4000 Deutsche) gegen 150’000 Russen. Innerhalb von zwei Wochen kamen auf einem Geländeabschnitt von nur 12x15 km ca. 1350 finnische und 6000 russische Soldaten ums Leben.

Autor Peter Mertens erforscht an der Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich unter anderem historische und aktuelle Fragen der Taktik und der «Operativen Führung».
Autor Peter Mertens erforscht an der Militärakademie (MILAK) der ETH Zürich unter anderem historische und aktuelle Fragen der Taktik und der «Operativen Führung».Bild: milak

Die aktuelle Situation der Ukraine im 2022 begonnenen russischen Angriffskrieg weist viele Parallelen mit der Lage Finnlands 1944 auf. Angesichts einer in Europa und den USA derzeit von Ratlosigkeit geprägten Stimmung lohnt sich deshalb ein Blick auf das finnische Beispiel. Die folgenden Überlegungen konzentrieren sich aus Platzgründen auf den militärischen Aspekt des Geschehens. Dies ist konform mit der Ansicht des ukrainischen Ex-Oberbefehlshabers, General Saluschnij, «that in modern conditions, the Armed Forces of Ukraine, together with other components of the State Defence Forces, have capabilities that allow not only to destroy the enemy, but also ensure the existence of statehood itself.»

Der Beitrag geht nicht davon aus, dass historische Fälle 1:1 in die Gegenwart übersetzbar sind. Er orientiert sich aber an zwei Grundannahmen. Die eine stammt von General Guisan, der die Schweizer Armee durch den Zweiten Weltkrieg führte: «Man muss seinen Blick rückwärts werfen können, damit man besser vorwärts blicken kann». Die andere äusserte kürzlich Saluschnijs Nachfolger, Generaloberst Syrskyi: «The main principles of war stay the same […]. Nothing has changed. OK, maybe the sophistication of equipment has changed, [as has] the degree to which processes are automated.»

Die Schlacht bei Tali‐Ihantala, 25.6. bis 9.7.1944

Als Folge seiner Niederlage im von der Sowjetunion begonnenen Winterkrieg 1939/40 musste Finnland 1940 grosse Gebiete abtreten.

Abgetretene finnische Gebiete, 1940
Von Jniemenmaa, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=533992
Rot: Gebiete, welche Finnland bis 1940 an die Sowjetunion verlor.Bild: Wikimedia/Jniemenmaa

Mit dem Überfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion 1941 sah die finnische Regierung die Chance gekommen, die verlorenen Landesteile zurückzuerobern, indem sie sich Hitlers Angriff anschloss. Nach Anfangserfolgen erstarrte die von Karelien im Süden bis zum Eismeer im Norden reichende Front schon Ende 1941.

Finnische Soldaten überqueren am 12. Juli 1941 bei Tohmajärvi die 1940 mit der Sowjetunion ausgehandelte Grenze.
Finnische Soldaten überqueren am 12. Juli 1941 bei Tohmajärvi die 1940 mit der Sowjetunion ausgehandelte Grenze. bild: wikimedia

Von 1942 bis 1944 war Finnlands «Fortsetzungskrieg» weitgehend ein Stellungskrieg. Als die Sowjets im Juni 1944 kurz vor ihrer Grossoffensive gegen NS-Deutschland zunächst Finnland angriffen, erwischten sie dessen Streitkräfte auf dem linken Fuss. Im langen Stellungskrieg nachlässig geworden, hielten die Finnen auf der strategisch zentralen Landenge von Karelien der enormen russischen Artillerie- und Panzerüberlegenheit nicht stand. In vielen Einheiten der sonst für ihre Tapferkeit bekannten Finnen kam es zu Panik und Desertationen. Trotz der kritischen Lage lehnte die finnische Regierung jedoch Moskaus Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation ab.

Die Frontlinie ab 1941

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Mitte Juni übernahm Karl Lennart Oesch, ein General mit schweizerischen Wurzeln, die Führung der Karelienfront. Nach fruchtlosen Versuchen, die Russen frühzeitig aufzuhalten, liess Oesch seine Truppen im hinhaltenden Gefecht auf die Linie Viipuri (Wyborg) – Kupasaari – Taipale (VKT-Linie) zurückgehen.

Die VKT-Linie.
Die VKT-Linie.bild: wikimedia

Er opferte Raum, gewann damit aber die Zeit, um Reserven heranzuführen. Oeschs riskantes Kalkül, den Gegner erst am letzten natürlichen Engpass vor dem Richtung Helsinki offenen Hinterland aufzuhalten, ging auf. In einer zweiwöchigen äusserst hart geführten Schlacht gelang den Finnen bis Mitte Juli 1944 die Stabilisierung der Front. Weitere finnische Abwehrerfolge an anderen Abschnitten kamen hinzu.

Karl Lennart Oesch.
Karl Lennart Oesch.bild: Wikimedia

Nach ihrem Scheitern in der Schlacht bei Tali und Ihantala begann die Rote Armee, grosse Truppenkontingente abzuziehen. Stalin wollte seine Armeen lieber für den Endkampf mit dem «Dritten Reich» zusammenfassen und brach die Karelien-Offensive ab. Den finnischen Verhandlungsvorschlag wies er indes zurück. Im September 1944 diktierte er seine eigenen Bedingungen. Finnland verlor rund 12 Prozent seines Staatsgebiets und 10 Prozent seiner Industriekapazität an die Sowjets. Es musste 300 Millionen Dollar Reparationen zahlen und 400'000 Flüchtlinge bzw. Umsiedler aus den verlorenen Gebieten integrieren.

Im Unterschied zu den meisten anderen Verlierern des Kampfs gegen die Sowjetunion wurde es aber nie von deren Truppen besetzt.

Durch die Mischung aus geschickter Realpolitik, eurostrategischer Randposition und dem Sieg bei Tali-Ihantala gelang es dem Kleinstaat Finnland, seine Integrität als Staat und seine Demokratie zu erhalten. Auf diese Weise konnten die Finnen später den gesamthaft gesehen verlorenen Krieg zum «Abwehrsieg» (v)erklären.

Die 11 Hauptfaktoren des finnischen Defensiverfolgs

Finnische Soldaten passieren einen zerstörten sowjetischen T-34.
Finnische Soldaten passieren einen zerstörten sowjetischen T-34.bild: wikimedia

Der Abwehrerfolg von Tali-Ihantala basierte auf 11 Hauptfaktoren. Dies waren zunächst …

  • 1. die Möglichkeit, ein starkes Verteidigungsgelände zu wählen
  • 2. die Fähigkeit, die eigenen Truppen an entscheidender Stelle zu konzentrieren
  • 3. die Bereitschaft, Raum für Zeit einzutauschen.

Dass die ukrainische Armee die dementsprechenden taktischen Grundsätze (Schwerpunktbildung, Flexibilität, Überraschung, Ökonomie der Kräfte, Einheitlichkeit des Handelns) in der Praxis beherrscht, hat sie im ersten Kriegsjahr bewiesen.

In der aktuellen Situation entlang der ausgedehnten Hauptfront zwischen Saporischschja, Donezk und Charkiw gestaltet sich diese Aufgabe indes ungleich schwerer. Es gibt dort kaum grössere Geländeabschnitte, die so günstige Bedingungen wie die VKT-Linie aufweisen. Wie die Russen es im Vorjahr an der Südfront mit ihren Minenfeldern und Stellungssystemen vorexerziert haben, lassen sich alle Linien und insbesondere deren Engpässe indes durch künstliche Geländeverstärkungen aufwerten. Für Bereiche, wo die erste Linie bereits durchbrochen wurde, wäre ein anderes Vorgehen nötig. An den der Schlacht von Tali‐Ihantala vorausgehenden Handlungen orientiert, müsste vorab die Bereitschaft bestehen, eigenen Raum aufzugeben und genug Truppen für ein nachhaltiges Verzögerungsgefecht zu investieren. Dies wäre übrigens auch ein Mittel, um an anderen Stellen die Russen aus ihren Befestigungen herauszulocken. Dadurch würde Zeit gewonnen, auf eine für die Verteidigung bessere rückwärtige Position auszuweichen und diese zuvor noch künstlich zu verbessern. Dabei bliebe darauf zu achten, dass an den Flügeln des Verzögerungsstreifens nicht die Nachbartruppen ausgehebelt und die Front weiter aufgerissen wird.

Als weitere Hauptfaktoren lagen dem finnischen Erfolg zu Grunde:

  • 4. Die Bereitschaft, angesichts klarer personeller wie materieller Unterlegenheit einen enorm hohen Anteil der Einwohner unter Waffen zu nehmen und hohe Verluste an Soldaten zu akzeptieren.
Finnische Soldaten mit Helmbemalung und deutscher Panzerfaust.
Finnische Soldaten mit Helmbemalung und deutscher Panzerfaust.bild: Wikimedia

Von seiner Vier-Millionen-Bevölkerung rekrutierte Finnland 500’000 Männer für den Dienst an der Waffe. Durchschnittliche Verluste pro Woche von 1,4 Prozent Toten, 6 Prozent Verwundeten und 1,1 Prozent Vermissten wie bei Tali-Ihantala wären für das Land dennoch nicht lange durchzuhalten gewesen. Verglichen mit Finnland sieht die Situation der Ukraine mit 45 Millionen Einwohnern eigentlich besser aus. Die Zahl von 0,9 bis 1,3 Millionen Mobilisierten ist beeindruckend. Sie reicht aber gegen einen Feind des Kalibers von Russland, auch wenn dieser im Moment wenig haushälterisch mit seinen Kräften umgeht, nur für eine Defensivstrategie. Würden die Ukrainer wie die Finnen handeln, wären höhere Zahlen möglich. Diesbezüglich tun sich die ukrainische Politik und Gesellschaft indes sehr schwer.

  • 5. Die rasche Wiederherstellung der Moral und Opferbereitschaft der Finnen.

Viele Truppenteile hatten zu Beginn der russischen Offensive panikartig ihre Stellungen verlassen oder einen ungekannten Mangel an Kampfmotivation gezeigt. Das harte Durchgreifen General Oeschs verschaffte Abhilfe. In puncto Mut und Einsatzbereitschaft stehen die heutigen ukrainischen Soldaten den finnischen Zweite-Weltkriegs-Kämpfern nicht nach. Bedeutsame Paniken oder Desertationen gab es bis jetzt nicht. Zwei Jahre Krieg zehren indes zunehmend an der Moral.

  • 6. Die für damalige Verhältnisse hohe Situational Awareness der Finnen.

Analog dem im Ukrainekrieg durch Drohnen, Satelliten und elektronische Aufklärungsmittel ermöglichten – teils als «gläsernes Gefechtsfeld» überbewerteten – Erfassen und Verstehen des taktischen, operativen und partiell auch des militärstrategischen Umfelds, verfügte das Hauptquartier in Mikkeli während der Schlacht über ein klares Lagebild. Verantwortlich hierfür waren die sehr gute finnische Funkaufklärung und die «kaukopartio», die im Hinterland der Russen operierenden Fernspähtrupps.

  • 7. Die kleine finnische Luftwaffe erhielt für rund einen Monat kampfkräftige fremde Hilfe.
Deutsche Stukas kehren 1944 von einem Einsatz bei der Karelischen Landenge zurück.
Deutsche Stukas kehren 1944 von einem Einsatz bei der Karelischen Landenge zurück.bild: wikimedia

Obwohl die deutsche Ostfront infolge der sowjetischen Bagration-Offensive bereits erste Auflösungserscheinungen zeigte, befahl Hitler die Entsendung eines Gefechtsverbands aus Sturzkampfbombern und modernen Jagdflugzeugen. Die deutschen Stuka-Piloten flogen fast viermal mehr Einsatzstunden als ihre finnischen Pendants. Heute kann die Ukraine keine derartige, offizielle Unterstützung von aussen erwarten. Die negativen Reaktionen fast aller anderen NATO-Staaten auf den einschlägigen, unklugen Vorstoss von Frankreichs Präsident Macron unterstreichen dies.

  • 8. Die Finnen konnten die Wirkung ihrer Artillerie durch eine simple Erfindung schlagartig erhöhen.

Mit dem «korjausmuunnin», einem mechanischen Feuerkorrekturgerät, gelang den Artilleriebeobachtern während der Schlacht von Tali-Ihantala die zielgenaue Koordination und Konzentration des Feuers von rekordverdächtigen 250 Geschützen. Seine ukrainische Entsprechung findet es in der für die artilleristische Feuerleitung entwickelten Open-Source-App GIS ARTA, die unter Abstützung auf Elon Musks Starlink-Satellitennetz 2022 Furore machte.

  • 9. Die funktionierende Armeelogistik, die die Versorgungsgüter rechtzeitig und im benötigten Umfang bereitstellte.
Finnischer Soldat 1944 bei der Wyborger Bucht.
Finnischer Soldat 1944 bei der Wyborger Bucht.bild: wikimedia

Noch zu Beginn der russischen Offensive hatte dies nicht geklappt. Insbesondere fehlte es an Panzerabwehrmitteln. Die finnischen Infanteristen waren den russischen Panzern oft wehrlos ausgesetzt. Die Rettung brachten zwei Innovationen, deren Handhabung die Soldaten schnell erlernen konnten. Ab Mitte Juni transportierten deutsche Schnellboote und Flieger in einer Eilaktion über 9000 Panzerfäuste und «Panzerschreck» nach Finnland. Im Ukrainekrieg sind es die Nachfolger dieser beiden Waffen, die modernen Panzerfaust-Varianten und die Panzerabwehrlenkflugkörper, welche den gepanzerten Verbänden das (Über-)Leben schwer machen.

  • 10. Finnland verfügte über keine Panzerindustrie.
Sturmgeschütz bei Lappeenranta.
Sturmgeschütz bei Lappeenranta.bild: wikimedia

Man konnte jedoch 1942 aus russischen Beutepanzern und einer kleinen Zahl im Deutschen Reich erworbener Sturmgeschütze eine eigene Panzerdivision formieren. Diese Division fungierte sowohl in den Rückzugsgefechten zu Beginn der sowjetischen Offensive als auch danach in der Schlacht von Tali-Ihantala entweder als Verzögerungsverband, der den Sowjetvorstoss abbremste und die feindlichen Divisionen in Gegenangriffen abnutzte. Oder als «Feuerwehr», die russische Einbrüche in die Front bereinigte. Vergleichbare Einsätze gepanzerter Verbände finden sich im Ukrainekrieg, wobei beide Parteien verglichen mit Finnland 1944 freilich über einen eindeutig grösseren Anteil an solchen Truppen verfügen.

  • 11. Als der erwartete Durchbruch zwischen Wyborg und Kupasaari – und damit der schnelle Sieg gegen Helsinki – nicht eintrat, reduzierte Moskau seine Kräfte in Karelien stark, um zusätzliche Truppen für die Besiegung Hitlerdeutschlands freizubekommen.

Umgehend liess der Druck auf General Oeschs Truppen fühlbar nach. Unter Ausnutzung seines Abwehrerfolgs bei Tali‐Ihantala und der strategischen Prioritäten Stalins konnte Finnland daraufhin die UdSSR um eine politische Lösung in Gestalt eines Waffenstillstands ersuchen. Auf eine solche Ablenkung der Russen dürfen die Ukrainer heute nicht hoffen. Putin scheint nicht unter Zeitdruck zu stehen. Und er hat nur einen einzigen militärischen Gegner. Zudem sind Teile des politischen und materiellen Unterstützungspotentials der Hauptpartner der Ukraine durch den Hamas‐Israel‐Krieg gebunden.

Diese letzten Beobachtungen verweisen auf weitere, wichtige Unterschiede, die beim Vergleich der damaligen Lage Finnlands mit der heutigen Lage der Ukraine im Hinterkopf behalten werden sollten. Finnland war 1941 der Angreifer und als Trittbrettfahrer des deutschen Ostkriegs strategisch bzw. politisch isoliert. Seine Streitkräfte bildeten ein Infanterieheer. Im Unterschied dazu kann Kiew seine Verteidigungskonzeption trotz hoher Materialverluste auf eine (noch) überwiegend motorisierte bzw. mechanisierte, moderne Armee stützen. Anders als die Ukraine, die täglich russische Luftangriffe auf ihre Städte und ihre Verkehrs‐ und Versorgungsinfrastruktur erlebt, blieben die Belastungen des strategischen Luftkriegs Finnland grösstenteils erspart.

Schlussfolgerungen für den Ukrainekrieg

epa11216940 Workers build a fortification line at an undisclosed location in the Kharkiv region, Ukraine, 12 March 2024, amid the Russian invasion. Ukraine began to build huge defence lines protecting ...
Ukrainische Befestigungslinie bei Charkiw.Bild: keystone

Ausgehend von den Erkenntnissen zu den Schlüsselfaktoren des finnischen Defensiverfolgs kann unter Beachtung der erwähnten Unterschiede sowie der anderen räumlichen und zeitlichen Verhältnisse des Kriegs in der Ukraine gefolgert werden: Wenn das zugesagte Rüstungsmaterial weiter zuläuft, die europäische «Munitionsmaschine» bis zum Sommer wirklich auf Touren kommt und die angeschlagene Moral der Ukrainer:innen durch die fortgesetzten russischen Angriffe keinen tiefergreifenden Schaden erleidet, scheint die Erwartung realistisch, dass die Ukraine im laufenden Jahr über eine Mischung aus statisch und wendig geführter Verteidigung unter Nutzung kurzfristig sich bietender Gelegenheiten den Status quo grösstenteils bewahren kann.

Sofern die derzeitige Führung um Präsident Selenskij an ihrer berechtigten Forderung festhält, die von Russland besetzten Gebiete zurückzuerhalten, benötigt die Ukraine jedoch eine Reihe nachhaltiger, durch eine probate Strategie verbundener militärischer Offensivsiege. Denn das Wiedergewinnen jener Regionen über (Friedens-)Verhandlungen ist vorläufig in weite Ferne gerückt.

Um die ukrainische Armee für einen Rückeroberungsfeldzug aufzurüsten, reicht freilich die bis jetzt im Raum stehende Unterstützung – im Kern das Militärhilfepaket der EU im Umfang von 21 Milliarden Euro und die vom US-Repräsentantenhaus blockierte amerikanische Unterstützung in Höhe von 60 Milliarden Dollar – bei weitem nicht aus. Damit eine ukrainische Grossoffensive, die nicht vor 2025 denkbar ist, Aussicht auf Erfolg hätte, müsste einerseits Kiew mehrere Hunderttausend voll ausgebildete Soldat:innen zusätzlich ausheben. Andererseits müssten die USA als einziger westlicher Staat, der aufgrund der Kapazität seiner Rüstungsindustrie und der eingelagerten Bestände überhaupt dazu in der Lage wäre, Panzer, Kampfflugzeuge, Flugabwehr, Kampfhubschrauber und sonstiges Grossgerät in einer Menge bereitstellen, die sehr weit über die bisherigen und die geplanten Lieferungen hinausginge. Das erscheint illusorisch.

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Ukrainische Soldaten mit einer Meeresdrohne des Typs «Sea Baby».Bild: keystone

Gleiches gilt für die Idee, den Krieg mit Luft‐, Land‐ oder Seedrohnen (und Cyber-Warriors und Informationsraum-Spezialisten) gewinnen zu wollen. Sie können beim gegenwärtigen Stand der Technik Gelände nicht selbständig erobern oder halten. Vorerst bleiben die Fusssoldaten (mechanisierte und leichte Infanterie) und die Kampfpanzer die Schlüssel zum Erfolg. Alle anderen Instrumente, wie leistungsfähig oder weitreichend sie auch sein mögen, haben in einem Krieg, in dem die territoriale Integrität und der Besitz von Raum im Zentrum stehen, auch in der nahen Zukunft nur Unterstützungsfunktion. Der Ukrainekrieg wird daher, falls keine politische Lösung erfolgt, durch einen Technik-Mix mitentschieden, dessen Zentrum die klassischen Waffensysteme bilden. Dies gilt unabhängig davon, ob dieser Krieg sich als Abnützungs-Stellungskrieg oder mittels Entscheidungsschlachten vollzieht.

Nicht umsonst bedauert General Saluschnij: «the old assets, unfortunately, are increasingly a dream for the Armed Forces of Ukraine».

Nimmt man Finnland im Sommer 1944 als Orientierungshilfe, wäre für die Ukraine unter den aktuellen Umständen das Anstreben einer defensiven Lösung realitätsnäher. Im Gegensatz zu Finnland ist die Ukraine als Verteidiger in einer moralisch guten Position. Ihr militärischer Defensiverfolg könnte dann als «echter» Abwehrsieg positiv auf Verhandlungen wirken. Eine solche Zielsetzung dürfte für die Ukrainer in Anbetracht ihrer hohen Opfer jedoch ernüchternd und für die Ambitionen ihres Präsidenten wohl zu bescheiden sein. Die wichtigste Unbekannte in jedem Kalkül bleibt aber, welche Ziele Putins Regime tatsächlich verfolgt und wie viel Ausdauer und Mittel es aufzubringen bereit ist, jene zu erreichen.

Neues Video zeigt, wie sehr ukrainische Seedrohnen die Russen überfordern

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66 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Neruda
13.03.2024 18:14registriert September 2016
Finnland musste auch seinen Zugang zum Polarmeer und Nikelminen abgeben.
Die Ukraine muss selber entscheiden, ob sie gewisse Gebiete aufgeben wollen um ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen. Zudem müssten alle die wollen die Ausreise aus den besetzten Gebieten erlaubt werden. Mir fehlt einfach der Glauben, dass Russland sich an die Abmachungen halten würden. Sie haben der Ukraine ja auch schon mal die territoriale Integrität garantiert. Für einen Waffenstillstand braucht es Vertrauen und das ist hier nicht gegeben. Man wüsste nie, ob sich die Russen nur neu formieren wollen.
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Schlaf
13.03.2024 19:03registriert Oktober 2019
Wenn man keine Munition/Waffen mehr hat, dann bleibt nur noch die Kapitulation. Scholz spielt ein gefährliches Spiel mit seinem Kuschen vor Russland.

Die Finnen waren da mit Nazideutschland im Rücken in einer anderen Situation.

Die Geschichte hat schon oft gezeigt, dass Russland nur Härte versteht.
Und der Herr Scholz haltet sich für besonnen, wenn er keine Taurus schickt um den Russen einen echten Nachteil bei der Versorgung an der Front zu geben.
Das ist echt schade/dumm!
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Majoras Maske
13.03.2024 18:21registriert Dezember 2016
Nur gibt es einen grossen Unterschied: Die Sowjetunion war damals nicht nur mit Finnland im Krieg, sondern vor allem auch mit Hitler. Heute ist Russland aber nur mit der Ukraine im Krieg.
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