Früher machte man es sich einfach. Nuklearer Abfall wurde verbuddelt, in Seen geworfen oder im Meer versenkt. Klappe zu, Affe tot.
Die Devise war klar: Bloss weg mit dem Atommüll. Doch wohin? Jedes mögliche Lager stösst verständlicherweise immer, zumindest in dicht besiedelten Ländern wie der Schweiz oder Deutschland, auf massiven Widerstand der Bevölkerung. Wer will schon neben einem atomaren Endlager wohnen?
In der Schweiz wird seit Jahren nach einem Standort gesucht, um die radioaktiven Abfälle der fünf Kernkraftwerke endgültig zu lagern. Mittlerweile hat man sich bei der Suche auf drei Standorte beschränkt: Jura Ost im Kanton Aargau, Nördlich Lägern in den Kantonen Aargau und Zürich sowie Zürich Nordost in den Kantonen Thurgau und Zürich.
Doch nicht überall auf der Welt wird so sorgfältig über die Lagerung von radioaktivem Material nachgedacht. Eine (unvollständige) Übersicht von radioaktiv verseuchten Gebieten, die die Umwelt und die Menschen bedrohen.
Die Schweiz hat zwischen 1969 und 1982 insgesamt 5321 Tonnen Atommüll im Nordatlantik versenkt. Diese Praxis nannte sich «Verklappung». Der Gedanke dahinter war, dass sich die Fässer über die Jahre auf dem Grund des Ozeans zersetzen, die radioaktiven Stoffe von Sedimenten bedeckt und in den enormen Wassermassen des Atlantiks bis zur Unschädlichkeit verdünnt würden.
Wie die NZZ berichtete, war es für 14 Staaten über 50 Jahre lang Usus, ihren radioaktiven Abfall so zu entsorgen. Acht europäische Staaten benutzten dazu 15 Stellen vor der europäischen Westküste, bei den Kanarischen Inseln, in der Irischen See und im Ärmelkanal.
Allein im Nordatlantik sollen 222'000 Behälter mit mehr als 100'000 Tonnen Gewicht versenkt worden sein. Dabei sollte jedoch erwähnt werden, dass ein Grossteil des Gewichts vom Beton herrührt, der zusammen mit dem Abfall in die Tonnen gemischt wurde. Auch wurde kein hochaktives Material, sondern lediglich schwach und mittelstark Beta-Gamma-strahlende und tritiumhaltige Abfälle versenkt.
Gemessen an der Strahlung belegt Grossbritannien beim Atommüll im Nordatlantik Platz eins mit einem Anteil von 77,5 Prozent. Auf Platz zwei folgt die Schweiz mit 9,8 Prozent.
Auf der weltweiten Rangliste liegt die Schweiz auf Platz drei (5,2 Prozent) hinter Grossbritannien (41,4 Prozent) und der Sowjetunion/Russland (44,8 Prozent).
Für das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) stellen die Fässer keine Probleme mehr dar. Das versenkte Material soll Stoffe mit Halbwertszeiten von 70 Tagen bis 30 Jahre enthalten haben. Somit sei die Strahlung komplett abgeklungen und die Kontamination mittlerweile unbedenklich.
Verschiedene Aufnahmen, die unter anderem von Greenpeace gemacht wurden, zeigten aber bereits im Jahr 2000 ausgelaufene Fässer auf dem Meeresboden. Ob die entronnenen radioaktiven Stoffe tatsächlich unbedenklich waren für die Umwelt, ist mehr als fraglich.
Am 1. Juli 1966 verkündete Charles de Gaulle zur Überraschung der ganzen Welt, dass Frankreich aus der Nato austreten würde. Nur einen Tag später zündete die Grande Nation ihre erste Atombombe auf der Insel Mururoa in Französisch-Polynesien. 192 weitere Tests sollten folgen.
Die lokale Bevölkerung informierte man nicht über die Gefahren der radioaktiven Strahlung. Im Gegenteil: Frankreich rekrutierte rund 10'000 polynesische Hilfsarbeiter und errichtete eine Retortenstadt für sie. Dort konnten die Mitarbeiter während der Zeit der Tests leben. Sie kamen in den Genuss von zahlreichen Annehmlichkeiten, so konnten sie zum Beispiel ins Kino gehen oder Sport treiben.
Ein bisschen weniger annehmlich: Die polynesischen Hilfsarbeiter durften auch den radioaktiven Abfall nach den Explosionen beseitigen, notabene ohne Schutzkleidung.
Laut einem Bericht des Spiegels waren die Auswirkungen der französischen Atombombentests weltweit spürbar. Bis nach Südamerika war radioaktiver Fallout im Wasser nachweisbar. In Neuseeland stellte man hohe Dosen radioaktiver Jod-Isotope in der lokalen Milch fest.
Auf Tahiti kam es 1974 zwei Tage lang zu radioaktiven Regenfällen, woraufhin der Grenzwert für Plutoniumbelastung um das 500-Fache überschritten wurde. 1979 kam es aufgrund einer missglückten Sprengung zu einer Tsunami-Welle, die zahlreiche Menschen verletzte. Auch kam es zu einem dramatischen Anstieg von Fällen von Fischvergiftung.
Bis heute erkranken überproportional viele Bewohner Polynesiens an Leukämie und Schilddrüsenkrebs. Wohl auch, weil noch immer circa 15 Kilogramm Plutonium in der Lagune von Mururoa vermutet werden. Oder weil es 27 radioaktive Müll-Deponien auf den Inseln gibt.
Im Jahr 2010 wurde zwar ein Entschädigungsgesetz verabschiedet, dieses berücksichtigt die Umweltauswirkungen der Atomtests jedoch nicht. Die Folgen für die öffentliche Gesundheit jedoch schon.
Zumindest offiziell. Denn eine wirkliche Entschädigung hat noch fast niemand erhalten. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass die Auslegung des Gesetzes ziemlich willkürlich ist. So wird Schilddrüsenkrebs etwa nur bei Ausbruch der Krankheit in jungen Jahren anerkannt.
Am 2. Oktober 2018 hat der polynesische Aktivist Oscar Temaru beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag Klage gegen Frankreich erhoben. Der Vorwurf: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Widmen wir uns Zentralasien. Genauer gesagt Kirgistan. Hier, am Fusse des Tian-Shan-Gebirges, ganz in der Nähe der Grenze zu Usbekistan, befindet sich die kleine Industriestadt Mailuu-Suu und der gleichnamige Fluss. In unmittelbarer Nähe von Mailuu-Suu, in einer Schlucht, lagern tausende Tonnen Atommüll. Und dieser Atommüll ist nur einen Erdrutsch davon entfernt, die Wasserversorgung des gesamten Ferghanatals zu kontaminieren.
Zwischen 1946 und 1968 hat die Sowjetunion in der Gegend Uranerz abgebaut. Dabei wurden mehr als zwei Millionen Kubikmeter Atommüll an den Berghängen entlang des Flusses Mailuu-Suu vergraben.
Wie Reuters berichtet, sind die Deponien vor Ort stark baufällig und müssen dringend verstärkt werden. Bei starkem Regenfall oder einem Erdbeben könnte radioaktives Material in den Fluss gelangen, der bis ins Ferghanatal und dort in den Fluss Syr Darya fliesst. Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) sammelt zurzeit Spenden für das Projekt.
Das Ferghanatal ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete in ganz Zentralasien, 14 Millionen Menschen leben dort. Es befindet sich in einer Senke zwischen dem Tian-Shan-Gebirge und dem Alaigebirge und wird heute unter den Ländern Kirgistan, Usbekistan und Tadschikistan aufgeteilt.
Bereits 1958 kam es nach starken Regenfällen und einem Erdbeben zu einem Erdrutsch, bei dem tausende Tonnen radioaktiver Abfälle freigesetzt wurden. Umweltschützer sagen, dass dabei nicht nur Menschen, Rinder und Fische vergiftet wurden, sondern auch die Reisfelder stromabwärts. Einen detaillierten Bericht der Sowjetunion dazu hat es nie gegeben.
In Mailuu-Suu selbst liegt die Krebsrate 50 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Auch Erbkrankheiten wie das Down-Syndrom treten häufiger auf. Nicht auszudenken, was bei einer Kontamination der Gewässer im Ferghanatal passieren würde.
Wir bleiben in der Region, wechseln aber nach Russland. Im südlichen Ural, in der Nähe zu Kasachstan, befinden sich Osjorsk und der Karatschai-See, auch bekannt als der tödlichste See der Welt.
Osjorsk hingegen ist bekannt als Geburtsort der russischen Atombombe und als Schauplatz einer der schlimmsten atomaren Unfälle der Weltgeschichte. Heimat von 80'000 Leuten, befindet sich in Osjorsk die Atomfabrik Majak, zu Deutsch Leuchtturm.
Im Juni 1948 ging in Majak der erste Kernreaktor der Sowjetunion in Betrieb. Die nuklearen Abfälle aus dem Betrieb des Reaktors wurden damals einfach in den nahegelegenen Fluss Tetscha geleitet. Die Dorfbewohner, die entlang des Flusslaufes lebten, erkrankten an Krebs, chronischer Strahlenkrankheit oder erlitten Fehlgeburten. Ein paar Dörfer wurden evakuiert, aber nicht alle.
1957 kam es dann zur Katastrophe, die als Kyschtym-Unfall in die Geschichte einging: In der Nuklearanlage explodierte ein Tank mit 80 Tonnen radioaktiver Flüssigkeit. Die Partikel schossen bis zu 1000 Meter in die Luft und verteilten sich auf einer Fläche von 20'000 Quadratkilometern.
Es soll mehr radioaktive Substanz in die Umwelt gelangt sein als bei der Tschernobyl-Katastrophe 1986. 270'000 Personen wurden erhöhten Strahlendosen ausgesetzt.
Der Sowjetunion gelang es, den Unfall mehr als 30 Jahre lang geheim zu halten. Dies war nur möglich, weil der atomare Fallout ausschliesslich auf sowjetischem Boden niederging.
Zehn Jahre nach dem Unfall kam es zur nächsten Katastrophe: Der nur wenige Kilometer entfernte Karatschai-See, der ebenfalls stark kontaminiert war, trocknete 1967 aufgrund einer Dürre aus. Daraufhin wurde radioaktiver Sedimentstaub über das ohnehin bereits verseuchte Land geweht. Einer Studie von 2009 zufolge soll sich der Staub über bis zu 5000 Quadratkilometer verteilt haben.
2015 wurde der See komplett mit einer Betonabdichtung überdeckt. Verschiedenen Berichten zufolge ist der See so stark kontaminiert, dass bereits ein 30-minütiger Aufenthalt zum Tode führt. Die Arbeiter, die den See abdichteten, durften jeweils nur eine kurze Zeit arbeiten, um die Strahlenbelastung zu verringern.
Noch heute sind zwei Reaktoren in Majak in Betrieb. Und noch heute kommt es zu Unfällen dort. Am 25. und 26. September 2017 registrierte der russische Wetterdienst Rosgidromet in Teilen Russlands eine «äusserst hohe» Konzentration von radioaktivem Ruthenium-106.
Die höchste Konzentration wurde 30 Kilometer von Majak entfernt gemessen. Zwischen dem 25. September und dem 7. Oktober betrug die Ruthenium-Konzentration zuweilen das 986-Fache des erlaubten Wertes.
Eine 2019 veröffentlichte Studie, an der 69 Wissenschaftler beteiligt waren, kam zum Schluss, dass ein Unfall in einer Wiederaufbereitungsanlage im südlichen Ural am wahrscheinlichsten der Grund für die hohen Werte war. Der Majak-Betreiber Rosatom wies alle Vorwürfe zurück.
Die Böden in der Ostural-Spur sind stark kontaminiert. Auch der Karatschai-See zählt heute zu einem der am stärksten radioaktiv belasteten Orte der Erde. Wasser aus dem See sickert zudem ins Grundwasser und belastet damit die Umgebung zusätzlich.
Laut einer Aussage des CEO von Rosatom gibt es zudem seit dem 19. November 2010 eine neue Regelung, nach der leicht radioaktive Abfälle nicht mehr als solche gelten und nun unkontrolliert in die Umwelt abgegeben werden dürfen.
Dies waren vier Beispiele. Es gibt jedoch noch viel, viel mehr. Wer sich weiter informieren möchte, hier ein paar weitere Beispiele:
Weltkarte mit Atomlagern, Waffentests, Reaktorunfällen und verseuchten Gebieten
Schweiz: Lucens