Die westliche Welt verfolgt wie gebannt die neuesten Eskapaden des US-Präsidenten und schaut daneben mit Sorge auf die Kriege in der Ukraine und im ewigen Pulverfass Nahost. Im Windschatten dieser Ereignisse eskaliert in Südasien ein Konflikt, der noch weitaus gefährlicher ist: Im Streit um die Region Kaschmir stehen sich mit Indien und Pakistan zwei Atommächte feindselig gegenüber, während im Hintergrund noch der Konflikt zwischen Indien und China – einer weiteren Atommacht – schwelt. Im Himalaja steht die Welt näher an einem Atomkrieg als sonst irgendwo.
Im April hat ein Terroranschlag auf Touristen im indischen Teil der Region den Konflikt weiter aufgeheizt. Die indische Regierung warf Pakistan vor, Terrorismus zu unterstützen und ordnete umgehend die Ausreise aller pakistanischen Bürger aus Indien an. Während Pakistan jede Beteiligung am Anschlag dementierte, setzte Indien den wichtigen Indus-Wasservertrag mit dem Nachbarland auf unbestimmte Zeit aus, schloss den wichtigsten Grenzposten und erklärte mehrere pakistanische Diplomaten zu unerwünschten Personen. In Kaschmir nahmen indische Sicherheitskräfte hunderte Personen fest. An der Grenze kam es zu Schusswechseln.
Warum ist Kaschmir so umkämpft und wo liegen die Hintergründe dieses Konflikts? Eine Übersicht.
Die häufig nur als «Kaschmir» bezeichnete umstrittene Region – ein Schnittpunkt buddhistischer, hinduistischer und islamischer Einflüsse – umfasst mehrere Gebiete, die von drei Staaten kontrolliert werden. Kaschmir im engeren Sinn besteht nur aus dem auf 1700 Meter Höhe gelegenen Kaschmir-Tal, das heute vollständig von Indien beherrscht wird. Während der britischen Kolonialzeit entstand der Fürstenstaat Kaschmir und Jammu, der sich schliesslich über nahezu die gesamte Region erstreckte.
Die Region ist mit insgesamt 222'000 Quadratkilometern gut fünfmal grösser als die Schweiz und hat rund 17,5 Millionen Einwohner. Davon entfallen 101'000 Quadratkilometer und 12,5 Millionen Einwohner auf die indischen Unionsterritorien Jammu und Kaschmir und Ladakh. Von Pakistan kontrolliert werden die Region Gilgit-Baltistan und das teilautonome Asad Kaschmir («Freies Kaschmir») mit zusammen 84'000 Quadratkilometern und etwa 5 Millionen Einwohnern. Daneben hält China noch Gebiete im Umfang von 37'000 Quadratkilometern mit nur wenigen Tausend Einwohnern besetzt.
Der Kaschmir-Konflikt hat seine Wurzeln in der Teilung Britisch-Indiens nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft. Diese Teilung wiederum erfolgte vornehmlich aufgrund der religiösen Spaltung des Subkontinents, wobei sich Muslime und Hindus zunehmend feindlich gegenüberstanden. Die Aufteilung der kolonialen Erbmasse in zwei Staaten – Indien sowie Pakistan, das bis 1971 auch Bangladesch umfasste – erfolgte gemäss dem Indian Independence Act 1947. Sie führte zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Hunderttausenden Toten und der Umsiedlung von Millionen Menschen.
Den über 500 Fürsten (Maharadschas, Sultane etc.) unter vormals britischer Oberhoheit in Britisch-Indien stand es frei, welchem Staat sie sich anschliessen oder ob sie unabhängig werden wollten. Dies galt auch für Hari Singh, den Maharadscha des Fürstenstaats Jammu und Kaschmir. Singh war wie die Elite des Fürstentums Hindu, während die Mehrheit der Bevölkerung muslimisch war. Der Maharadscha votierte zunächst für die Unabhängigkeit, geriet aber unter zunehmenden Druck von Pakistan. Auch Indien, dessen erster Premierminister Jawaharlal Nehru aus einer kaschmirischen Hindu-Familie stammte, übte Druck auf Singh aus.
Im Oktober 1947 drangen Freischärler aus Pakistan in Kaschmir ein, um den Anschluss zu erzwingen. Sie stiessen auf wenig Widerstand und konnten schnell ein Gebiet im Westen besetzen, in dem sie das autonome Azad Kaschmir ausriefen. Singh rief nun die indische Armee zu Hilfe, doch der Preis für die militärische Unterstützung war der Beitritt des Fürstentums zu Indien. Nach der Unterzeichnung der Beitrittserklärung griffen indische Truppen in die Kämpfe ein und drängten die Freischärler und Aufständischen zurück.
Eine grosse indische Offensive provozierte im Frühjahr 1948 den Einsatz regulärer pakistanischer Truppen – damit begann der Erste Indisch-Pakistanische Krieg, der 1949 mit einem Waffenstillstand endete. Die Waffenstillstandslinie der UNO («Line of Control», LOC) bildete fortan die De-facto-Grenze zwischen Indien und Pakistan, wurde aber weder von Delhi noch Islamabad anerkannt. Eine Beobachtermission der UNO überwachte die LOC ab 1949, erwies sich aber als wenig effektiv. Zwei weitere Kriege um die Region (1965 und 1999) änderten nur wenig am Verlauf der Grenze. Die Kampfhandlungen fanden dabei teilweise in hoch gelegenen und abgeschiedenen Berggegenden statt.
Mit dem Indisch-Chinesischen Grenzkrieg 1962 mischte sich auch die Volksrepublik China in den Konflikt ein. Chinesische Truppen fügten der indischen Armee eine herbe Niederlage zu. Das dünn besiedelte Gebiet von Aksai Chin steht seither unter chinesischer Kontrolle. Zudem trat Pakistan 1963 das nahezu menschenleere Shaksgam-Tal auf der Nordseite des Karakorum an das mit ihm verbündete China ab, was Indien – das nach wie vor Anspruch auf das gesamte Gebiet erhebt – nie anerkannt hat. Der derzeitige faktische Grenzverlauf zwischen Indien und China im Himalaja wird «Line of Actual Control» (LAC) genannt.
Auch nach dem Ersten Indisch-Pakistanischen Krieg blieb der Status von Kaschmir ungeklärt. Nach wie vor erhebt Indien Anspruch auf die gesamte Region, also auch die von Pakistan und China kontrollierten Teile. Pakistan beansprucht das von Indien kontrollierte Territorium, nicht aber das von China besetzte.
Pakistan, das explizit als Islamische Republik gegründet wurde und sich als Heimstatt für die Muslime des Subkontinents verstand, beruft sich wie zu Beginn des Konflikts auf die demografische Tatsache, dass die Mehrheit der Bevölkerung in der Region Kaschmir muslimisch ist. Indien, das als säkularer Staat gilt, verweist dagegen auf die Beitrittserklärung zur Republik Indien des Maharadschas von Jammu und Kaschmir im Jahr 1947.
Unmittelbar nach dem Ende des ersten Kriegs um Kaschmir hatte die UNO ein Referendum über die Zukunft der Region vorgeschlagen. Die indische Regierung lehnt jedoch nach wie vor die Durchführung einer solchen Volksabstimmung in Kaschmir ab – sie fürchtet angesichts der muslimischen Mehrheit dort einen für sie negativen Ausgang – wohl zu Recht. Delhi betrachtet den Konflikt als innere Angelegenheit der beiden betroffenen Staaten und verbittet sich jede Einmischung von Dritten.
Der Streit zwischen Indien und China geht auf die Grenzziehungen in der Kolonialzeit zurück. Die Grenze zwischen Britisch-Indien und dem Kaiserreich China beziehungsweise Tibet verlief freilich grösstenteils in unwegsamem, dünn besiedeltem Gebiet und war gar nicht offiziell definiert. Es gab verschiedene britische Grenzlinien, die zu verschiedenen Zeiten beansprucht, aber kaum je durchgesetzt wurden. Gemäss der Johnson-Linie aus dem Jahr 1865 wäre Aksai Chin Teil von Indien. Gemäss der Macartney-MacDonald-Linie von 1899 dagegen wäre der weitaus grösste Teil von Aksai Chin chinesisch. Während Indien sich auf die kolonialen Grenzen beruft, sind sie für China nicht bindend.
Zwischen Indien und China besteht noch ein weiterer territorialer Zankapfel: Arunachal Pradesh weiter im Osten. Das Gebiet ist heute ein indischer Bundesstaat. Nach chinesischer Auffassung gehört es jedoch zum Autonomen Gebiet Tibet und damit zu China. Während des Indisch-Chinesischen Grenzkriegs drangen chinesische Truppen in Arunachal Pradesh ein, zogen sich aber wieder zurück.
Nach dem Dritten-Indisch-Pakistanischen Krieg, der mit einer Niederlage Pakistans endete und zur Unabhängigkeit Bangladeschs – früher Ostpakistan – führte, verpflichteten sich Indien und Pakistan 1972 im Shimla-Abkommen, ihre Streitigkeiten friedlich durch Verhandlungen zu lösen. Dennoch schwelte der Konflikt weiter und es kam immer wieder zu Kämpfen, etwa 1999 zum Kargil-Krieg, in dem beide Staaten bereits Atommächte waren und der nur durch massiven amerikanischen Druck nicht weiter eskalierte. Blutige Anschläge von pakistanischen Terrorgruppen in Indien, etwa 2008 in Mumbai, belasteten das Verhältnis der beiden Atommächte schwer.
Indien löste das Fürstentum Jammu und Kaschmir 1952 auf und gliederte das Gebiet als indischen Gliedstaat in die Union ein. Doch Delhi gelang es nie, die Herzen der Zivilbevölkerung dort zu gewinnen, auch weil man auf Proteste in der Regel mit Repression antwortete. Seit Ende der 1980er-Jahre kämpfen Separatisten in der Region für die Unabhängigkeit. Die indische Armee, die diese Bestrebungen bekämpft, befeuert sie zugleich durch massive Menschenrechtsverletzungen. Die hohe Arbeitslosigkeit in Kaschmir und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten tragen zusätzlich zur Unzufriedenheit der Bevölkerung bei.
2012 sah es zeitweise nach einem Tauwetter in den indisch-pakistanischen Beziehungen aus. Doch mit dem Amtsantritt des hindu-nationalistischen Premierministers Narendra Modi im Jahr 2014 änderte sich dies. Der säkulare Charakter des indischen Staates ist zunehmend infrage gestellt; die muslimische Minderheit sieht sich immer mehr mit islamfeindlicher Hetze und Marginalisierung konfrontiert. Dies schlägt sich auch in der Regierungspolitik gegenüber Kaschmir nieder: 2019 hob Delhi den Autonomiestatus des Gliedstaats Kaschmir auf und teilte ihn in zwei Unionsterritorien (Jammu und Kaschmir sowie Ladakh), die direkt der Zentralregierung unterstellt sind.
Diese Massnahme war aus pakistanischer Sicht eine Provokation, denn sie führte dazu, dass es Inderinnen und Indern aus anderen Bundesstaaten nun erlaubt ist, Wohneigentum in Kaschmir zu erwerben. Die muslimische Bevölkerung in den Unionsterritorien fürchtet nun eine schleichende demografische Unterwanderung durch Hindus. Insgesamt haben sich die indisch-pakistanischen Beziehungen in der Ära Modi deutlich verschlechtert. Dies liegt auch daran, dass der indische Premier die Kaschmir-Frage populistisch nutzt, um innenpolitisch seine Anhänger bei der Stange zu halten.
Die Kaschmir-Region ist geopolitisch ausserordentlich wichtig. Dort treffen drei Atommächte aufeinander und entlang der rund 740 Kilometer langen Waffenstillstandslinie zwischen Indien und Pakistan stehen sich hunderttausende Soldaten gegenüber. Allein die Zahl der dort stationierten indischen Truppen wird auf eine halbe Million geschätzt.
Die Schusswechsel an der Grenze, die nach dem jüngsten Anschlag stattfanden, lassen nichts Gutes erahnen. Indien und Pakistan versuchen derzeit, einander mit Drohgebärden einzuschüchtern. Beide Atommächte, die den Atomwaffensperrvertrag nicht unterzeichnet haben, machen keinerlei Anstalten, einen Schritt zurückzuweichen, auch weil sie negative innenpolitische Folgen eines solchen Anzeichens von «Schwäche» fürchten. Beobachter sorgen sich daher, dass die Lage jederzeit ausser Kontrolle geraten könnte, etwa wenn weitere Terroranschläge folgen oder wenn Indien einen Vergeltungsschlag innerhalb von Pakistan durchführt.
Hinzu kommt, dass Indien den Indus-Wasservertrag ausgesetzt hat. Damit droht die Reduzierung der lebensnotwendigen Wasserzufuhr nach Pakistan. Die pakistanische Regierung hat in der Vergangenheit bereits angedeutet, dass mit einer solchen Massnahme eine rote Linie für den Einsatz von Atomwaffen überschritten wäre.