Dorothy, ihr Mann und ein Freund machen sich auf nach Island, auf einer Fähre von New York nach Reykjavik. Mit an Bord nehmen die drei unter anderem: Oliven für Martini, Schweppes, Foie Gras, Prosciutto, Baclava, Wiener Würstchen und Mango. In Reykjavik wartet Dieter, der ist Künstler, und der Freund will ein Buch über ihn machen. Dieter verfällt Dorothy. In einem Hotelzimmer küsst er den Saum ihres blauen Kleides und legt seinen Kopf in ihren Schoss. Kein Sex. Noch nicht. Danach: jahrelang. Nicht in Island, sondern in Deutschland.
Dieter ist Schweizer, heisst Dieter Roth und lebt in Frankfurt, und Dorothy Iannone, in Boston aufgewachsen, verlegt seinetwegen ihr Leben nach Deutschland. Zuerst nach Frankfurt, bis sie in 1975 ein Stipendium nach Berlin erhält. Aus Freude darüber lässt sie ein Lied von Marlene Dietrich laufen: «Wenn keiner treu Dir bliebe/ Ich bleib Dir ewig grün/ Du meine alte Liebe/ Berlin bleibt doch Berlin.» Und masturbiert dazu. Sie nimmt das Damenduett Dietrich-Iannone mit dem Kasettenrecorder auf, steckt die Aufnahme in eine bemalte Holzkiste und nennt das Werk «The Singing Box: Berlin bleibt doch Berlin».
Einmal fragt Dieter sie, wie viele Männer sie vor ihm gehabt habe. Sie malt ihm eine Liste mit dem Titel «A much more detailed than requested reconstruction» und widmet jedem der alten Liebhaber eine schwarz-weisse Bildtafel. Dieter ist Nummer 31, die Wand mit den Exen wird zur erotischen Graphic Novel. Denn Dorothy Iannone, die heute 81 Jahre alt ist und zum 80. beschlossen hat, nie mehr vor die Presse zu treten, ist eine erotisch Besessene.
Als Vollblut-Hippie zeichnet sie nach Art der indischen Mandalas ins Ornamentale zerfliessende Liebesakte, amüsant, bunt, mal pathetisch, mal vollkommen frech. Sie feiert die freie und die universale und heute auch die transzendentale Liebe. Gewissermassen Menschen, die mit einem höheren Bewusstsein ficken. Heute ist sie nämlich vollends eine Buddhistin und wird in Berlin auch fast nur noch in buddhistischen Kreisen und nicht mehr in der Kunstszene gesehen. Was schade ist.
Dorothy Iannone, die unverfroren lebens- und liebenslustige Provokateurin, ist nämlich ein wandelndes Stück Kunst- und Sozialgeschichte: Eine Frau, deren Malerei unentwegt mit Zensur belegt wurde und die selbst anderen Künstlern half, dass deren Kunst das Rotlicht-Ghetto der Zensur verlassen durfte. 1961 wird ihr verboten, das als pornografisch indizierte Buch «Tropic of Cancer» («Wendekreis des Krebses») von Henry Miller in die USA einzuführen. Sie geht vor Gericht und erwirkt, dass Miller vom Index genommen wird.
1969 soll ihr Werk in einer Gruppenausstellung in der Kunsthalle Bern gezeigt werden, Kurator ist der spätere Gigant unter den Ausstellungsmachern, Harald Szeemann. Andere Mitglieder der auszustellenden Gruppe, darunter Daniel Spoerri und Karl Gerstner sowie der Eisenplastiker Bernhard Luginbühl, versuchen sie aus der Ausstellung zu mobben und kleben Papier über die Geschlechtsteile ihrer Figuren. Sie geben vor, um Szeemanns Position zu fürchten.
Nachts entfernt sie die Zensurkleber wieder, gegen ihren Ausschluss sind Roth und sie am Ende machtlos. Am Tag nach der Eröffnung entfernt Roth seine Bilder ebenfalls, die beiden kehren nach Frankfurt zurück. Ganz Bern spricht von den beiden, Spoerri wirft ihnen vor, Mythenbildung zu betreiben.
Auch «The Story of Berne» hat Iannone als Comic in vielen Blättern gezeichnet, mit wortgetreuen Sprechblasen versehen, jedes konspirative Bargespräch, jeder verlogene Telefonanruf ist dabei, allen männlichen Protagonisten hängen dabei die Geschlechtsteile aus der Hose, es ist hochkomisch, und dazwischen, als «Intermission», immer wieder sie und Roth beim glücklichen Sex. Und weil diese Liebe so gross war und die Trennung umso schrecklicher, kommentierte sie das Ende mit einer «Aua-Aua-Box»: In einer mannhohen, bunt bemalten Box hängt ein Bildschirm, auf dem all die Insignien des Abschieds zu sehen sind, Herzen, von Messern durchbohrt.
Schier unzählig sind die Objekte und Werkgruppen, die Möbel, die Video- und Ton-Boxen aus 50 Jahren autobiografischem Schaffen, die das Zürcher Migros Museum nun im ersten Stock versammelt hat, und fast endlos viel Zeit könnte man mit dem Entziffern der schön geschriebenen Anekdoten verbringen. Literatur war denn auch Dorothy Iannones Studium, nicht Kunst, und viele Kritiker rieten ihr früher zum Schreiben, um der Zensur auszuweichen.
Sie hat nicht auf die Kritiker gehört. Denn der Zensur stattzugeben, hätte für sie Verdrängung und Triebunterdrückung bedeutet und die Aufgabe ihrer sexuellen und damit auch intellektuellen und künstlerischen Freiheit. Sie ist vielmehr der comichaften Doppelung von Schrift und Zeichen bis heute treu geblieben, zu ihren jüngsten Arbeiten gehören die charmanten «Movie People» (2009/2010), laubgesägelte Figuren aus Filmen mit grossen Liebesproblemen, dazu ein Sockel, gefertigt aus einer kleinen Filmkritik. «Lolita» ist dabei, aber auch «The Piano» oder «Brokeback Mountain». Mitten im Saal stehen sie, auf Augenhöhe, und es wirkt wie ein Parcours in einem Park eines buddhistischen Klosters, wo überall weise Worte auf Tafeln geschrieben stehen.
Es ist ein eigentümliches Universum, dieser radikal heterosexuelle, koitale Kosmos der Dorothy Iannone, so prall voll körperlicher Liebe und Extase, aber auch so heiter und in seiner naiv-dekorativen Zeichensprache so verspielt und tatsächlich sehr, sehr unschuldig. Sie selbst nennt ihre Arbeit jedenfalls unschuldig. Was die Wirkung in vergangenen Jahrzehnten angeht, ist dies selbstverständlich eine Untertreibung. Aber eine charmante.