Ich bin froh, dass ich mich nie zwischen Mama und Papa entscheiden musste. Ich habe das Glück, dass die beiden seit 50 Jahren ineinander verliebt sind. Ich weiss wirklich nicht, wie sie das machen. Aber es funktioniert.
Sie sagen, dass sie nie aufgehört haben, Sex zu haben. Sie sagen das ungefragt und jetzt geht der Text schon in eine Richtung, in die ich nicht will.
Eltern-Sex ist etwas, das ich als Tochter nicht wissen will. Aber schön haben sie es schön. Logo.
Anyhow.
Zu meinem Dad Bruno hege ich ein enorm enges Verhältnis. Bruno ist the best. The one. Der Fels. Bruno hat mich nie verurteilt, hat mir alles zugetraut und mir, zum Leidwesen meiner Mutter, nichts verboten. Als Erwachsene verstehe ich, dass das meine Mutter ungeil fand.
Sie musste erziehen, bad Cop sein. Er war nur good Cop. Und cool. Verdammt lässig. Alle meine Freunde liebten Bruno.
Mit Mama war's nicht immer einfach. Als ich in die Pubertät kam, drehte zuerst ich durch, dann sie. Verliess ich das Haus in Overknees und High Heels, hatte sie Panik. Fand sie meine Zigaretten, war sie uhuren hässig. Hatte ich grad einen Freund, hatte sie Panik, dass ich schwanger werde.
Heute ist Mum entspannt. Gechillt. Easy going.
Vor allem aber ist sie in your face. Also in my face vor allem.
Neulich sitzen wir in meinem Lieblingscafé. Wir essen Apfelstrudel und trinken Kaffee.
«Alles gut mit Sandro?», fragt sie.
«Alles bestens», sage ich.
Mama mag Sandro. Sie findet auch, dass es gut passt zwischen ihm und mir. Sie hätte sich dennoch was anderes gewünscht.
«Wie findest du Sandro so ganz wirklich, Mama?»
«Er ist lustig und herzlich.»
Ich schau sie skeptisch an.
«Das ist er wirklich. Er ist aber auch etwas zerstreut und chaotisch und unruhig und rastlos.»
Wie ich, sage ich.
Sie lacht.
«Mama, hättest du es dir anders gewünscht? Hochzeit, Enkel, eine steile Karriere?»
«Natürlich, Schatz.»
«Denkst du nicht, das bin ich nicht?»
«Ja und nein. Mir ist aber bewusst, dass ein solches Leben sehr viel mehr mein Wunsch für dich ist, als es du wirklich bist.»
Wir haben einen guten Lauf.
«Mama, würdest du heute was anders machen, wäre ich wieder ein kleines Mädchen?»
«Ich würde vor allem Papa nicht mehr so viel durchgehen lassen.»
Wir lachen.
«Okay, Mum. Findest du mich nervig?»
«Natürlich. Du mich, Schatz?»
«Auch. Aber viel weniger als früher.»
Wir reden über die Pubertät. «Du warst ein Ekel, Ems. Du hast geraucht, gekifft, warst saufrech, fandest die Schule zu uncool, um zu lernen. Du bist nie zur vereinbarten Zeit nach Hause gekommen, hast nichts im Haushalt gemacht und hast aus Prinzip alles gedisst, was ich gesagt habe.»
«Und du, liebe Mum, warst permanent auf 180. Job und Haushalt und pubertierendes Kind, das war too much. Du hast mir ewig nicht vertraut und deine Ängste auf mich projiziert.»
«Das stimmt. Das tut mir leid.»
«Easy, Mum. Ist ja alles gut gekommen.»
«Was macht dich trauriger, Mama, dass du nicht auf meiner Hochzeit tanzt oder du nie Enkel bekommst?»
«Das mit den Enkeln tut schon weh.»
«Würde ein Hund helfen?»
«Gott bewahre, Ems!»
«Okay.»
«Mama, auch wenn ich ein Papa-Kind bin, ich liebe dich imfall sehr.»
«Ich weiss, Herz. Und weisst du was, ich finde es wunderschön zu sehen, wie eng Papa und du seid.»
«Er ist schon eine krasse Nummer!»
«Das ist er. Ich sag's immer wieder und ich meine es auch so: Ich würde ihn jeden Tag aufs Neue heiraten!»
«Du Kitschnudel!»
«Ihr seid nun seit 50 Jahren zusammen? Über was redet man da so beim Zmittag und Znacht?»
«Viel über dich. Und über uns. Wir schmieden Reisepläne, planen Ausflüge, lästern über die Verwandtschaft und Nachbarschaft.»
Das tönt easy, finde ich. Mama sagt, dass es das auch ist. Dass es kein Krampf ist, wenn der Mann der Richtige ist.
«Denkst du, Sandro ist der Richtige, Schatz?»
«Ja, schon. Aber manchmal ist es schon streng, Mami. Und manchmal ist uns auch langweilig und wir haben auch mal mit jemand anderem geschlafen.»
Mama wird etwas bleich um die Nase.
Ich will ihr gerne erzählen, wie das für uns war und was das mit uns gemacht hat. Schliesslich bindet sie mir manchmal auch ungefragt auf die Nase, dass sie noch mit Papa schläft und wir sind ja eine offene easy Family.
«Ich will das nicht wissen, Ems!»
In dieser Sekunde kommt Bruno dazu. Er küsst zuerst Mama, dann meine Stirn. «Alles klar, ihr zwei, nehmen wir ein Gläsli Weissen?»
Mama sagt, dass Sandro und ich fremd gegangen sind.
«Mit oder ohne Erlaubnis?», fragt Bruno. Mit, sage ich.
Bruno gibt mir ein High Five. Er will alles wissen. Hat tausend Fragen.
Mum wird's too much. Sie muss schnell, ja, was eigentlich … ah ja, da drüben, ein Laden mit Taschen … «Ich komme bald wieder…»
Wir lachen.
«Papa, wirst du Mum nun auch fragen, ob ihr eure Beziehung mal öffnet?»
«Erst im nächsten Leben, Schatz. In diesem wäre ich zu traurig, würde sie statt Taschen mal schnell Zigaretten holen.»
Ich habe so ein Glück, ihr Kind zu sein. Die pumpen mich seit über 40 Jahren so voll mit Liebe, dass ich gar nicht anders kann, als sexuelle Ausflüge ausserhalb der Beziehung als das zu sehen, was sie sind: Abenteuer, die nichts mit Sandros und meiner Liebe zu tun haben.
Und dann reicht die Liebe von Bruno und Mama auch noch für das stoische Handeln dieser Kommentarspalte. One Love, Leute. One Love.
Ich will mein Geld zurück!
... oh wait...
Ich will meine Userdaten zurück!
Gruss
Chorche, masslos enttäuscht
Ich bin auch Ü40 aber Liebe gab es bei uns nur ganz selten.
Ich habe in meinem ganzen Leben nur einmal gehört das mein Vater sagte er sei stolz auf mich.
Zu einem "ich liebe dich" kam es zu Lebzeiten nicht mehr. Auch von meiner Mama nicht.
Wenn ich dann solche Geschichten lesen finde ich es einerseits wunderschön für dich und anderseits nochmals sehr traurig für mich, die sich sowas immer gewünscht hätte. Sei dankbar, es ist wirklich nicht jedem gegönnt solch wunderbare Eltern zu haben. 🤍
Am meisten berührt hat mich aber die Aussage von Bruno, als er sagte: «Erst im nächsten Leben, Schatz. In diesem wäre ich zu traurig, würde sie statt Taschen mal schnell Zigaretten holen.»
Das muss wahre Liebe sein, will er nichts aufs Spiel setzen. So schön!