David Cronenberg ist ein Mann, den es bedingungslos zu verehren gilt. Wenn man ein Kino mag, das Horror, Perversionen und zugleich deren scharfe Analyse liefert. Was ungefähr alle tun, die gerade in Neuchâtel am NIFFF sind, dem sogenannten «Swiss Event for Fantastic Film, Asian Cinema & Digital Creation».
Das NIFF ist der Hort von Monstern, Nerds und neuer Technik. Fantasien werden hier hemmungsloser an den Tag gelegt als anderswo, man sieht unauffällige junge Männer in T-Shirts mit Slogans wie «seduce & destroy» – das Motto des Maskulinisten Frank T.J. Mackey (Tom Cruise) aus «Magnolia». Die gezeigten Filme heissen «Pizzamonster», «Cutterhead» oder irgendwas mit «kill» oder «die» im Titel. Und natürlich läuft auch «Hereditary», die neue Horror-Preziose nach «Get Out».
Zwischen alledem: der Meister. David Cronenberg, 75, Regisseur von «The Fly», «The Dead Zone», «Dead Ringers», «Crash», «eXistenz», «A History of Violence», «Eastern Promises», «A Dangerous Method» und ein unverschämt gut aussehender Mann. Zudem Jury-Vorsitzender in Neuchâtel und Interview-Muffel, jedenfalls hat er alle Anfragen abgelehnt und gibt statt dessen einen Talk. Was okay ist. Hören wir ihm also zu.
Cronenberg will jetzt am liebsten nur noch Romane schreiben. Für seinen bisher ersten und einzigen – «Consumed» («Verzehrt»), die Liebesgeschichte eines natürlich pervers veranlagten Paares – brauchte er acht Jahre, «weil ich gleichzeitig noch vier Filme drehte». Und dann entdeckte er auch noch diesen verdammten Zeitfresser namens Netflix. Schaute sich die Philip-K.-Dick-Serie «Man in the High Castle» an, die Dicks Töchter produziert hatten. Fand sie toll, sagt: «Das Äquivalent zum Roman ist eine Serie, die über mehrere Jahre dauert.»
Gut, da ist er nicht der erste, das haben schon mindestens hunderttausend vor ihm genau so gesagt. Egal. Man kann nicht jeden Gedanken aus sich selbst heraus erfinden. Und David Cronenberg hat das schon oft genug getan. «Ich hatte weder als Regisseur noch als Drehbuchautor einen Mentor oder ein Vorbild, ich musste mich selbst erfinden», sagt er selbstbewusst. Hat er gut gemacht.
Aber zurück zu Netflix. «Das Kino», sagt er, «ist nicht mehr die grosse Kathedrale, wie wir sie gekannt haben, die grosse Leinwand ist in Millionen von kleinen Leinwänden zersplittert. Für mich kein Grund zu trauern. Vielleicht werde ich statt einen Roman zu schreiben eine Serie für Netflix drehen.» Sehr gern! Doch zuvor verfilmt sein Sohn «Consumed». «Ich hab zu ihm gesagt: ‹Ich hab keine Lust das selbst zu tun, ich habe keine Lust mehr zu leiden.› Er sagte: ‹Ich schon.› Ich sagte: ‹Gut. Denn du wirst leiden müssen. Ich spiel jetzt Margaret Atwood und du machst aus meinem Buch sowas Erfolgreiches wie Handmaid's Tale.› Vielleicht werde ich Executive Producer, aber nur, um etwas Geld zu machen.»
Cronenberg kam 1943 in Toronto zur Welt, wo er noch heute lebt. Das Kino infizierte ihn schon als Kind. «Kino war wie Atmen. Jeden Samstagnachmittag sah man lange Schlangen von Kindern, die sich auf das Kino zubewegten. Damals hatte man noch keine Angst, Kinder auf die Strasse zu lassen.» Er schaute sich dort Cowboys und Cartoons an. Auf der andern Strassenseite war ein kleines Kino. Es zeigte italienische Filme für die italienische Community von Toronto. Eines Nachmittags sah David, wie alle Erwachsenen, die aus dem Kino kamen, weinten. Sie hatten «La Strada» von Federico Fellini gesehen. «Da habe ich begriffen, was für eine Wirkung Film haben kann.»
Als Teenager schrieb er Kurzgeschichten, die er hoffnungsvoll an Science-Fiction-Magazine sandte, die Antwort lautete immer gleich: Dass da zweifellos ein Talent vorhanden sei, das aber noch ein paar Jahre reifen müsse. Ihm fehlte dazu die Geduld. So, wie sie ihm auch fehlte, als er kurz überlegte, ob er nicht Wissenschaftler werden wolle. Insekten interessierten ihn zum Beispiel sehr. Wir wissen alle, was aus diesem Interesse geworden ist: Der arme Jeff Goldblum musste sich in «The Fly» in eine monströse Fliege verwandeln.
«Meine Liebe zum Gewaltkino ist berechtigt, sie ist vererbt», sagt er, sein Vater habe nämlich nicht nur als Journalist die Spezialgebiete Briefmarken und Wirtschaft beackert, sondern auch für ein Magazin namens «True Canadian Crime Stories» wahre Kriminalfälle aufgezeichnet. Oft habe er das ganze Magazin unter diversen Pseudonymen allein gefüllt.
Einer der Nerds von Neuchâtel will wissen, was ihn, den «Auteur», den Autorenfilmer, der überwiegend seine eigenen Drehbücher schreibt, denn dazu bewogen habe, 1983 «The Dead Zone» nach Stephen King zu verfilmen. «Verzweiflung und Armut», sagt Cronenberg. Als er sich an die Arbeit machte, lagen bereits fünf Drehbuchfassungen des Stoffes vor, «die schlechteste war von Stephen King». Cronenberg entschied sich für die abseitigste Fassung. Und fand überraschend grossen Gefallen daran, eine Symbiose mit einem andern Autoren-Ego einzugehen.
Er selbst scheiterte brutal an einer Philip-K.-Dick-Adaption, er verlor ein ganzes Jahr im Versuch, die Kurzgeschichte «We Can Remember it for You Wholesale» («Erinnerungen en gros») zu bearbeiten, am Ende hatte er zwölf Fassungen, die alle nichts taugten. Die Hauptrolle hätte er gerne William Hurt gegeben. Ein anderer war schliesslich erfolgreicher als er – Paul Verhoeven machte aus der Erzählung «Total Recall». Mit Schwarzenegger in der Hauptrolle.
«Ich wollte nicht nur ein Romanautor sein, sondern ein obskurer Romanautor, einer, der irgendwann zufälligerweise entdeckt wird. Wie Djuna Barnes zum Beispiel. Eine Autorin, die kaum jemand kennt, aber wenn man sie mal gelesen hat, ist sie grossartig.» Das stimmt. Lest «Nightwood» von Djuna Barnes, Leute! Eine tragische lesbische Liebesgeschichte aus dem Bohème-Paris der 30er-Jahre. Für William S. Burroughs «eins der grossen Bücher des 20. Jahrhunderts». Und was hat jetzt Burroughs schon wieder mit Cronenberg zu tun? Ach ja, aus C.'s Verehrung für B. wurde «Naked Lunch». Natürlich.
Alles hängt mit allem zusammen. Oder wie Cronenberg sagt: «Ich denke nie daran, die Leute im Kino zu erschrecken. Ich will sie auf eine philosophische Reise schicken, ihnen zeigen, wer wir sind und wer wir nicht sind.» Seine Filme sind «Maps to the Stars», sind Karten zu den Sternen, mal sind die Wege schaurig, mal blutig, dann wieder einfach nur intensiv analytisch wie im Psychoanalytiker-Drama «A Dangerous Method». Aber immer sind sie gesäumt vom Menschen und seinen Monstern. Deren Schöpfer man nur bedingungslos verehren kann.