Hinter dem ersten ikonischen Bild von Daniel Craig als James Bond steckt der gleiche Trainer wie hinter Amerikas Superfudi. Beziehungsweise «America's Ass». Er gehört Chris Evans in seiner Rolle als Captain America. Wer die Welt retten will, braucht Muskeln. Immer mehr Muskeln. Egal, wo. Auch dort, wo sie bloss gut aussehen.
Chris Evans ist Teil einer riesigen Ausdehnung des Arsenals an Muskelmännern im Film. Und zunehmend auch Muskelfrauen. Früher waren das einzelne, Schwarzenegger, Stallone oder ein gut, aber nicht übertrieben modellierter Brad Pitt in «Fight Club».
Und jetzt? Es herrscht die Inflation der Aufgepumpten. Der «Guardian» hat dieses Phänomen den «Marvel Body» getauft, nach den flächendeckenden und miteinander verwobenen Superhelden-Reihen von Marvel, aber natürlich gehören auch die anderen dazu. Jason Momoa als Aquaman. Dwayne Johnson, dessen Black Adam, wenn es nach Johnson geht, einmal ins Marvel-Universum integriert werden soll. Sie alle sind Teil einer Kinoinvasion der Übermenschen.
Und sie machen Geld damit. Erst im März hat Chris Hemsworth («Thor») seine Fitness-App Centr an Mark Bezos, den jüngeren Bruder von Jeff Bezos, verkauft. Über die Verkaufssumme ist nichts bekannt, aber wenig dürfte Hemsworth für die 200'000 Abonnenten schwere und monatlich gegen 30 Dollar teure App nicht erhalten haben. Seine Vision, «die beste Version meiner selbst» zu formen, machte sich bezahlt. Dank Centr kann man turnen, essen und meditieren wie Thor.
Die Trainingseinheiten und Diätregimes der Schauspielerinnen und Schauspieler werden zu einem neuen Subgenre ihres Superhelden-Rollen-Narrativs: Nur wer richtig ackert, hat so eine Rolle auch verdient, und wer sich auf der Leinwand physisch von den Normalsterblichen unterscheidet, sollte das gefälligst auch im echten Leben tun. Schmerz ist Street Credibility. Körperkraft wird zur moralischen Verpflichtung. Mit Schauspielkunst hat das nichts zu tun.
Brie Larson (Captain Marvel) postet regelmässig Videos und Fotos aus dem Kraftraum und schreibt dazu Sprüche wie: «Der Sommer ist da, aber blaue Flecken vom Training gibt's zu jeder Jahreszeit.» Natalie Portman redete während der «Thor»-Promotionstour über nichts anderes als ihr zehnmonatiges Aufbautraining und Chris Hemsworths absurde Fleischzufuhr («Er ass ungefähr jede halbe Stunde ein kleines Tier»), die er nur einmal unterbrach, nämlich vor einer Kussszene mit der Veganerin Portman.
Einiges an den Dimensionen der Leinwandkörper ist selbstverständlich virtuell hinzurealisiert. Doch vieles ist es nicht. Simon Waterson, der Trainer von Chris Evans und Daniel Craig (auch für «No Time to Die»), steht fast 24/7 im Dienst von Hollywood. Er beschreibt die Körperbild-Entwicklung der letzten Jahre so: Durch Marvel seien artifizielle Comic-Figuren in echte Schauspieler übersetzt worden. Das Training, die Diäten, der militärische Drill, die diese für ein authentisches Erscheinungsbild brauchen, seien nicht nur unmenschlich, sondern auch unfassbar teuer. Nichts für Normalsterbliche.
Der Schauspieler Will Poulter, der sich auf seine Marvel-Premiere in «Guardians of the Galaxy 3» vorbereitet, sagt über seine Diät, es sei «manchmal nicht besonders zivilisiert» zugegangen. Da seien «Mengen an Essen, die man nicht unbedingt zu sich nehmen möchte. Und manchmal auch nicht genug Essen. Ich habe in den letzten Monaten eine Reihe verschiedener Diäten durchlaufen. Ich habe Phasen erlebt, in denen ich das Essen ansah und das Gefühl hatte, es nicht ertragen zu können, und im nächsten Moment wollte ich Möbel essen, weil ich so hungrig war».
Und was tun die Normalsterblichen im Versuch, sich dem Ideal anzunähern? Sie geben alles. 22 Prozent der jungen Männer zwischen 18 und 24 Jahren, so berichtete der «Guardian» schon vor drei Jahren, würden unter Selbstbild- oder Essstörungen leiden. Auf der Suche nach dem extra männlichen, extra muskulösen und dabei fettfreien Körper. Mit dem sich so manche soziale Unsicherheit und Angst sublimieren lassen soll, gerade in rundum bedrohlichen Zeiten wie diesen.
Die Folgen: Bestätigungszwang, übersteigertes Training, Nahrungseinnahme nach einem unumstösslich fixierten Stundenplan, Anabolika-Missbrauch (der auch bei einigen Schauspielern mit zur Hollywood-Diät gehört), soziale Vereinsamung, Aggressionen, Depressionen.
Nun ist nicht klar, wo Ursache und Wirkung des Phänomens «Marvel Body» liegen. Ob er der Grund für den zunehmend härteren Fitnesswahn junger Menschen ist, oder ob letzterer der Grund für die immer krasseren Heldenkörper ist. Schliesslich muss das Fantastische der Realität immer einen Schritt voraus sein.
Allerdings war Hollywood schon immer so: Marlene Dietrich liess sich Zähne ziehen, damit ihre Wangenknochen stärker hervortraten, Marilyn Monroe liess sich Kinn und Nase richten, Rita Hayworth erhielt eine höhere Stirn. Das Bild eines Filmstars hatte mit dem Menschen im Kinosessel schon damals herzlich wenig zu tun.
Unterschätzen darf man die Kraft der Bilder aus der Massenunterhaltung trotzdem nicht: «Germany's Next Topmodel» und die Kardashians haben unter jungen «Bachelor»-Kandidatinnen Frauen schon genug Schaden angerichtet.
Amerika braucht dringend mehr Verstand und nicht nur Muskeln...