Wir brauchen die politische Bildungspflicht
In einem neuen sicherheitspolitischen Papier beschreibt das VBS (Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport) drei Säulen der Landesverteidigung. Neben den Klassikern «militärischer Schutz» und «Spionageabwehr» wird sehr prominent die Förderung der Resilienz der Bevölkerung herausgestrichen.
Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass der Bund die Bevölkerung auch gegen subtilere Formen der politischen Einflussnahme impfen will. Beispielsweise gegen Desinformation. Dafür sollen unter anderem Lehrpläne überprüft werden – ob diese den Herausforderungen der heutigen Zeit gewachsen sind. Zusätzlich appelliert das Papier an den Goodwill der Bevölkerung.
Das habe etwas von «Geistiger Landesverteidigung», spöttelten diverse Medien. Die Bewegung, die während des Ersten Weltkriegs entstand, gewinnt heute keinen Coolness-Wettbewerb mehr. Entsprechend wehrt man sich beim VBS auch gegen den Begriff. Eigentlich zu Unrecht. Mit Coolness gewinnen wir keinen Blumentopf. Mit Cleverness hingegen schon.
Auf die Resilienz der Bürger zu setzen, wie Bundesrat Pfister und das VBS das vorschlagen, ist clever. Doch die Massnahmen sind zu sanft. Mit etwas Goodwill kommen wir gegen Algorithmen von TikTok, Instagram und Co. nicht mehr an. Wir benötigen eine politische Bildungspflicht. Wir benötigen ein Pflichtprogramm, das uns BürgerInnen fit macht für die steigende Komplexität unserer Demokratie und die brachialen neuen Dynamiken der politischen Kommunikation.
Ich rede nicht von politischer Abrichtung. Ich rede von einer Grundfitness der Stimmberechtigten, die Feinheiten und Tücken politischer Prozesse besser zu verstehen. Doch während die Fitness schwindet, nimmt die Komplexität zu.
Dieselbe Grundfitness erwarten wir von einer Elektrikerin, die unsere Leitungen im Haus verlegt. Sie muss dafür eine Prüfung bestanden haben. Auch FahrzeuglenkerInnen dürfen nur nach einer Prüfung auf die Strasse. Über das Rettungspaket unserer AHV kann aber jeder Frosch abstimmen. Halt! Falsch! Nur jeder Frosch mit Schweizer Pass. Als wäre dieser ein Gütesiegel für politische Kompetenz.
Ich gehe (noch) nicht so weit, das Stimmrecht an eine bestandene Prüfung zu koppeln – aber ich gehe so weit, dafür den Besuch regelmässiger Kurse zu verlangen.
Die Komplexität unserer Vorlagen setzt gewisse Kenntnisse voraus. Wer diese nicht hat, das belegen diverse Studien, ist leichter beeinflussbar, wird leichter Opfer von Populismus und Demagogie, neigt zu Politikverdrossenheit, fällt leichter auf Propaganda herein. Ein(e) echte(r) PatriotIn, eine Person, die dem Land und der Bevölkerung nur das Beste wünscht, setzt entsprechend auf möglichst aufgeklärte – resiliente – BürgerInnen. Auch der schönste Baum ist nicht gefeit davor, von innen zu verrotten.
In der direktdemokratischen Schweiz hat die politische Bildung paradoxerweise einen tiefen Stellenwert und ich bezweifle, dass die obligatorische Schulzeit genug gegen die drohende Kernfäule unternimmt. Mit 14, 15, 16 Jahren sind unsere Teenager nicht einmal zur Urne zugelassen. Dem Schulschatz ein Zetteli zu schreiben, ist interessanter, als Details zur Krankenversicherung auswendig zu lernen. Diese werden aber später relevant, wenn der Schulschatz zehn Jahre später mit dem zweiten Kind schwanger ist.
Umgekehrt erlebe ich bei älteren Menschen immer wieder eine erschreckende Naivität im Umgang mit der sich rasant verändernden Medienwelt. Nein, der Adler hat kein Baby weggetragen – und nur weil der Mann eine Krawatte trägt, bedeutet das nicht, dass er es besser weiss als alle Klimawissenschaftler dieser Welt.
Bei der Gesundheit unserer Demokratie nur auf Freiwilligkeit und Selbstdisziplin zu setzen, tönt zwar badass und cool. Es ist aber naiv. Wieso soll sich Yannick, 22, von Peter Blunschi auf watson.ch die AHV erklären lassen, wenn auf TikTok ein Kleinwüchsiger gegen eine Anakonda kämpft?
Die Algorithmen von TikTok und Co. stammen aus den USA und China. Sie befinden sich in den Händen von Milliardären. Das Ziel der sogenannten sozialen Medien ist nicht, uns zu informieren. Ihr Ziel ist es, uns möglichst lange an den Schirm zu fesseln. Sie führen uns wie Ochsen am Nasenring herum und fördern das Schwarz-Weiss-Denken (die Ambiguitätsintoleranz), was eine ganze Reihe von negativen Effekten auf die BürgerInnen hat (Politikverdrossenheit, Vertrauensverlust in Demokratien sowie Abkehr von politischer Partizipation).
Freiwillig zu Hause zu trainieren, ist gut und recht. Aber wenn der Gegner immer grösser, stärker und mächtiger wird, kommt der Punkt, an dem ein professionelles Training vonnöten ist. Wir sind nun an diesem Punkt angekommen.
Über die Details, zum Wie, Wann und Wo, können wir uns genüsslich streiten. Wie viel es braucht, wie viel genug ist ... ich weiss es nicht. Vielleicht reicht nur schon ein zweiwöchiger Kurs alle zwei Jahre.
Natürlich wird uns das was kosten – genauso wie andere Massnahmen (Dienstpflicht, Rettung der UBS), die im Interesse unseres Landes ergriffen wurden.
Natürlich wird es uns BürgerInnen nerven. Aber gerade in Hinblick auf das, was aktuell ennet dem Teich geschieht und toleriert wird, geniesse ich unsere Freiheiten, unser System hier in der Schweiz, aus tiefstem Herzen.
Ich hoffe, ihr alle auch.
Dafür etwas zu tun, zwei Wochen alle zwei Jahre die Schulbank zu drücken, ist nun weiss Gott nicht zu viel verlangt.
