Nach einer halben Stunde mit Laetitia Casta sind wir auch nicht schlauer. Die Frau ist wunderschön. Und so langweilig wie eine Baguette im Regen. Gut, von ihr aus gesehen sind die vielleicht dreissig Menschen, die ihrer «Conversation» am Mittwoch folgen, sicher auch nicht spannender. Und schön kann man das Publikum eh nicht nennen. Es besteht aus maskierten Gesichtern, feuchten Haaren und Schichten von eleganzresistentem, aber regenabweisendem Plastik. Wahrscheinlich vergleicht sie uns mit erkalteten Würstchen, was wissen wir schon über die Publikumssicht der Stars?
Doch Laetitia Casta ist schliesslich nicht eine von uns, sondern die Schauspielerin, die am Abend den «Excellence Award» entgegennimmt. Den Alkohol-Pokal also, bisher stiftete den eine Champagnermarke, jetzt ist es Campari, und Casta kriegt ihn, weil sie absolut «zentral fürs Kino» sei, wie Festivaldirektor Gioana A. Nazzaro betont. In Frankreich sicher. Aber sonst so?
Laetitia Casta ist 43, mit 15 wurde sie beim Sandburgenbauen an einem korsischen Strand als Model entdeckt, sie war eine Sensation, sie war frisch, ihr Lächeln begeisterte alle, sie wirkte wie ein sanfter Sonnenaufgang, Yves Saint Laurent inszenierte sie mit Blumen und Ähren als eine Art Naturwunder. Mit 19 wurde sie Schauspielerin, verdrehte als Falbala in «Asterix und Obelix gegen Caesar» Obelix (Gérard Depardieu) den Kopf, sie sei «mit viel Naivität» in diesen Dreh gestolpert, aber danach hatte sie ein paar Kontakte.
Wie sie denn zum Film gekommen sei, will die Moderatorin wissen, die explizit von Castas Erfolgen als Schauspielerin und als (vierfacher) Mutter beeindruckt ist, was sich heutzutage irgendwie schräg anhört, aber gesagt ist gesagt. «Ich ging sehr früh von der Schule ab», meint Casta entschuldigend, «als Model bin ich viel gereist und auf den Flügen habe ich viele Filme gesehen.»
Und wie verhalten sich Modeln und Schauspiel zueinander? «Die befruchten sich gegenseitig, als Mannequin», sie sagt nie «Model», habe sie gelernt, sich in einem Raum zu bewegen, ihn zu besetzen, ihren Körper bildtauglich zu machen. «Mode ist wie ein Stummfilm», wird sie am Abend sagen, als ihr der Campari-Award überreicht wird.
In Locarno werden zwei Filme mit ihr gezeigt, einer davon das Biopic «Gainsbourg (vie héroïque)», in dem sie Brigitte Bardot spielt. Sie habe Bardot um ihre Einwilligung gefragt, sagt sie, und Bardot habe ihr einen Rat für die Rolle gegeben: «Sie sagte: ‹Ich habe mich den Männern und dem Leben gegenüber benommen, als wäre ich ein kleines Mädchen in einer Bäckerei – ich habe mich einfach bedient.›»
Laetitia Casta selbst bleibt auf eine freundliche Art in allem so vage wie möglich, aber vielleicht muss man sich hier auch einfach einmal eingestehen, dass Schönsein manchmal durchaus ausreichend ist. Und dass die Sucht nach dem Dahinter und Darunter bloss der Verzweiflung der Nichtsoschönen entspringt, die sich wenigstens mit einem Mosaiksplitter aus der glänzenden Existenz der Stars identifizieren können möchten.
Und plötzlich sitzt die aktuell allgegenwärtige Vicky Krieps («The Phantom Thread», «Old», «Das Boot») vor uns und sagt ausgerechnet in Locarno das Netteste, das je ein Star über Zürich gesagt hat. Auf meine Frage nämlich: «Ms Krieps, Sie haben in Zürich Schauspiel studiert, was uns in Zürich alle sehr stolz macht, und jetzt sehen Sie sich plötzlich in die Superstar-Stratosphäre katapultiert: Haben Sie eine Ahnung, was all die Regisseure in Ihnen suchen?»
Ihre Antwort ist: «Mich macht es nervös, wenn ich mich frage, was andere in mir sehen könnten. Aber gehen wir zurück nach Zürich, ich bin mir ganz sicher, dass Zürich mir sehr geholfen hat. Ich wählte die Stadt wegen des Sees und wegen der Natur – nicht die naheliegendsten Kriterien für eine Schauspielschule. Aber ich dachte mir, in Zürich werde ich viel schwimmen und wandern und mich nicht nur im Internet rumtreiben und mich fragen, wie berühmt ich wohl einmal werde. Ich dachte, in Zürich bleibe ich mich selbst. Und ich glaube, was die Regisseure in mir suchen, das bin einfach ich.»
Vicky Krieps spielt im Netflix-Film «Beckett» von Ferdinando Cito Filomarino, mit dem Locarno an diesem grandios verregneten Tag auf der Piazza Grande beziehungsweise wetterbedingt in der Mehrzweckhalle FEVI eröffnet wird. Netflix-Kino also, nicht Kino-Kino. In wenigen Tagen wird man die Menschenjagd von «Beckett» auch zuhause schauen können, und der zentrale Star ist auch nicht Vicky Krieps, die eine Deutsche spielt, die nach Athen kommt, um den Kapitalismus zu bekämpfen, sondern John David Washington. Sohn des Denzels, Titelheld aus «Tenet», Zendayas Love-Interest aus «Malcolm & Marie» oder grossmauliger Polizist aus «BlaKkKlansman», mit dem er für einen Oscar nominiert war.
In «Beckett» ist er Beckett, ein Amerikaner, der in Griechenland von korrupten Polizisten gejagt wird, weil er zufälligerweise auf die mysteriöse, aber heisse Spur eines Verbrechens gerät. Washington ist ehemaliger NFL-Profi, als Beckett ist er jedoch eher normalkörprig, sein Regisseur mästete ihn «mit Fünfgangmenüs und so», sagt Washington, Beckett sollte ein ganz normaler Mann sein, der in ein Action-Abenteuer verwickelt wird, man glaubt's ihm. Der Dreh sei toll gewesen, sagt Washington, «so international, am Set wurden fünf Sprachen gesprochen und alles war voller Liebe.» «Na ja, ich spreche drei, vier Sprachen und für mich war Film schon immer international», entgegnet Krieps, die Luxemburgerin, dem Amerikaner.
Bei der Eröffnung im FEVI sagt Washington ein paar Stunden später: «Wenn ich an Beckett denke, dann denke ich ans Überleben. Und das ist es ja auch, weshalb wir alle hier sind, um das Überleben der Leinwand-Erfahrung zu feiern.» Das ist schön, die Frage ist bloss: Werden sich kollektive Kinoerlebnisse wie in Locarno in Zukunft vielleicht einmal mehrheitlich auf Festivals beschränken? Krieps wird gefragt, ob sie sich in ihrer Figur einer Widerstandskämpferin wiedergefunden habe: «Es war ganz leicht», sagt sie, «man braucht bloss einen Obdachlosen zu fragen, wie es ihm geht und was er so vom Kapitalismus hält.»
«Beckett» ist über weite Strecken packend, sehr physisch, sehr rätselhaft, dank der umwerfenden Landschaft einem jener griechischen Heldenepen ähnlich, in denen ein Odysseus oder Ödipus oder Herakles unzählige Episoden der Gefährdung hinter sich bringen muss. Das ist zuerst sehr romantisch (mit Alicia Vikander) und dann sehr traurig (ohne Alicia Vikander – wieso ist sie eigentlich nicht hier? Weil sie und Michael Fassbender ihr erstes Baby gekriegt haben!). Alle haben eine andere Begründung, wieso Beckett verfolgt wird, mal sollen es die Faschisten, mal die Kommunisten sein, nur der Schluss ist irgendwie doof, aber das sind die Schlüsse von erstaunlich vielen Filmen, vielleicht sollte man sich grundsätzlich die letzte Viertelstunde nicht anschauen.
Filomarino war bereits 2011 in Locarno zu Gast (mit «Diarchia», in dem Laetitia Castas aktueller Ehemann Louis Garrel mitspielt) und ist glücklich, wieder hier zu sein, er habe jetzt «deutlich weniger Haare, aber mehr Filme». Das mit den Haaren gilt für viele hier. Das mit den Filmen nur für einige. Doch der Regen fiel an diesem ersten Tag auf uns alle.