Lou Andreas-Salomé ist sich nicht gewöhnt, etwas nicht zu kriegen. Im Gegenteil. Die russische Generalstochter kriegt immer viel mehr, als sie will. Vor allem Männer. Und immer wollen sie alle sofort heiraten. Es beginnt 1879 in Sankt Petersburg mit einem Geistlichen, der seine Familie für die 18-Jährige verlassen will. «Sie machen sich schuldig an diesem Kinde!», donnert ihm ihre Mutter entgegen, er antwortet: «Ich will schuldig werden an diesem Kinde!» Doch das Kind ist bloss am Geist des Geistlichen interessiert, nicht am Rest.
Er habe ihr mit seiner Hysterie die Lust auf die Liebe verdorben, wird sie später sagen, sie wird sich den Männern verweigern, selbst ihrem Ehemann, dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas. Den sie 1887 immerhin heiratet. Aber erst, nachdem er sich vor ihren Augen ein Messer in die Brust stösst. Eine Nacht lang weint sie um ihn, dann sagt sie Ja. Unter der Bedingung, nie mit ihm Sex haben zu müssen. Er willigt ein, er liebt sie viel zu sehr, eines Nachts nähert er sich ihr trotzdem und stirbt beinahe, weil sie im Schlaf ihre Hände um seinen Hals legt und zudrückt, bis sie von seinem Röcheln erwacht. Getraut werden die beiden übrigens – so will es Lous sadistische Laune – von dem immer noch verliebten Geistlichen aus Sankt Petersburg.
Vor Friedlich Carl Andreas sind die Freier dutzendfach gescheitert, gleich zweimal der Philosoph Friedrich Nietzsche. Schon bevor er Lou zum ersten Mal gesehen hatte, war er wild entschlossen gewesen, sie zu heiraten. Seinen zweiten Antrag machte er ihr während einer Schweizerreise in Luzern beim Löwendenkmal. Danach entstand im Atelier des Luzerner Fotografen Jules Bonnet das berühmte Peitschenporträt mit Salomé, Nietzsche und dem ebenfalls in sie verliebten Paul Rée.
Das Arrangement auf dem Bild inklusive Fliederzweig an der Peitschenschnur (erkennbar ist das nicht, aber wir glauben hier der Legende) ist Nietzsches Idee. Lou ist 21, er 37. Sie verehrt seine Schriften, er verehrt sie. Sie will mit Nietzsche und Rée eine Wohngemeinschaft der Geistesgrössen errichten, die beiden wollen mehr. Mit Rée wird sie immerhin so intim, dass sie ihn «Häuschen» nennt und er sie «Schnecke». Nietzsche wünscht sich, «ein Parkettstück im Zimmerchen» von Lou zu werden.
Nach Rée und Nietzsche kommen weitere: die Dichter Wedekind, Schnitzler und Hoffmannsthal, die meisten der insgesamt 18 Privatgelehrten, die sich Lou in Berlin hält, um die einzige grosse Lustbarkeit zu pflegen, an der sie wirklich interessiert ist – den geistigen Orgasmus. Sie studiert Philosophie, Religion, Soziologie, Geschichte, Medizin, arbeitet als Publizistin und Schriftstellerin und wer ihr begegnet, beschreibt sie als «Genie». Von der Emanzipation der Frau hält sie nicht viel. Zu gern ist sie die einzige Frau unter Männern.
Und so ziehen die Jahre ins Land, nach ihrer dramatischen Eheschliessung teilen sich Lou Andreas-Salomé und Friedrich Carl Andreas ein intellektuell erfülltes, sexuell abstinentes Leben. Sie fährt immer mal wieder mit einem Verehrer in die Ferien, doch eines Tages, sie ist inzwischen 36, kommt ein blutjunger Mann und schreibt ihr die schönsten Briefe und Liebesgedichte, die sie bis dahin bekommen hatte. Er heisst René Maria Rilke. Sie will, dass er sich statt René Rainer nennt und sich eine schönere Handschrift zulegt. Er tut, was sie will.
Und so wird Rainer Maria Rilke tatsächlich ihr erster Liebhaber. Er wohnt beim Ehepaar Andreas, betätigt sich als Haushaltshilfe, vor allem als Koch von Eintöpfen, reist mit ihnen nach Russland – und wird nach vier Jahren entsorgt: «Damit R. fortginge, ganz fort, wär ich einer Brutalität fähig. (Er muss fort!)», schreibt sie in ihr Tagebuch. Und betrügt ihn auch gleich.
Und dann kommt der Tag, an dem sie nicht bekommt, was sie will, und derart austickt, dass sie zum Stadtgespräch von Göttingen wird: Es ist im Juni 1903, ihr Mann hat endlich eine Professur erhalten, das Ehepaar zieht von Berlin nach Göttingen, und Lou sieht ihr Traumhaus, eine kleine Villa etwas ausserhalb der Stadt mit grossem Garten und Hühnern. Es ist bewohnt und nicht zu haben. Lou tobt: «Ich raste beim Gedanken, dass das nicht zu haben sei.» Sie beschliesst, der alten Frau, die ihr Leben in dem Haus verbracht hat, so viel Geld anzubieten, dass sie es nicht ausschlagen kann.
Natürlich kriegt sie das Haus dann doch. In Anlehnung an Richard Wagners Bayreuther Villa Wahnfried und wie alle ihre bisherigen Behausungen tauft sie es Loufried. Und auf Loufried kommt bald ein Kind zur Welt. Seine Mutter: Die Haushälterin. Sein Vater: Friedrich Carl Andreas. Lou Andreas-Salomé findet es etwas geschmacklos, dass das «Mariechen» ausgerechnet unter «ihrem» Dach gezeugt wurde, ist aber ansonsten erleichtert, dass eine andere den Kinderwunsch ihres Mannes erfüllt hat. Nach seinem Tod wird sie Mariechen zu ihrer Alleinerbin machen.
Über Loufried schreibt sie einen Roman, der jetzt, genau 100 Jahre nach seiner Premiere, im Zürcher Telegramme-Verlag neu herausgegeben wurde: «Das Haus». Sie bevölkert es mit einer Arztfamilie: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Der Vater ist ein gütiger, gründlicher Wissenschafter – oder Friedrich Carl Andreas. Hinter der Figur seiner geschwisterlichen Partnerin und braven Hausfrau Anneliese verbirgt sich eine Freundin von Lou Andreas-Salomé.
Die Tochter ist sie selbst. Uneingeschränkt freiheitsliebend. Anmassend. Der Sohn ist Rilke. Ein Homme fragil und angehender Dichter, der schon viel Zeit in Nervenheilanstalten verbracht hat und nicht wirklich weiss, wen er mehr liebt und begehrt – seine Schwester oder deren Mann, einen jüdischen Arzt. Die Mutter ist öfter depressiv, weil sie ein weiteres Kind verloren hat, eine Episode wiederum aus Lous Leben, die ein Kind jenes Mannes, mit dem sie Rilke betrog, verloren hatte.
Mit Ausnahme des Vaters sind alle sehr überhitzte, komplizierte Gemüter, die sich in künstlich gestelzte Betrachtungen und Dialoge verlieren und «Das Haus» nicht wirklich zu guter Literatur, aber zu einem hoch interessanten Zeitdokument machen. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Judentum ist anregend: Es mag sein, argumentiert die Autorin, dass sich Religionen nun einmal fundamental fremd sind und bleiben. Man müsse gar nicht erst versuchen, diese Differenz zu leugnen. Aber es gebe Methoden zur Überwindung der Fremdheit: Erstens natürlich die Liebe, zweitens aber auch Kulturtechniken wie Musik oder Wissenschaft. Da würden sich grosse Gefühle und grosse Geister finden und einträchtig eine verbindliche, neue Weltordnung schaffen.
Vor allem aber hat Lou Andreas-Salomé eine neue Leidenschaft entdeckt. Und noch einmal wird sie ihre «Genialität», eine Eigenschaft, die seit Jahrhunderten Männern vorbehalten ist, unter Beweis stellen. In ihren theoretischen Schriften hat nämlich längst eine Faszination für das Triebleben des Menschen alles andere abgelöst. Und als Narzisstin ist sie von der Idee der Psychoanalyse begeistert.
Sie bewirbt sich bei Sigmund Freud, fährt nach Wien, setzt sich in sein Seminar, diskutiert mit und hält Vorträge. Freud beschreibt sie als «Frauenzimmer von gefährlicher Intelligenz». Sie liebt ihn wie einen Vater – er ist «das Vatergesicht über meinem Leben» – und arbeitet gelegentlich mit seiner Tochter Anna zusammen. Schliesslich wird sie selbst Analytikerin.
Zuhause in Göttingen gilt sie als eine Art spiritistische Wunderheilerin: Eine ihrer Klientinnen, eine reiche Dame, lässt sich nämlich im Auto zur ersten Analyse-Sitzung fahren. Und verlässt Loufried gelöst und zufrieden zu Fuss. Lou Andreas-Salomé ist so erfolgreich, dass ihr Freud besorgt schreibt: «Ich höre mit Schrecken – aus guter Quelle –, dass Sie bis zu 10 Stunden täglich Analyse geben. Halte es natürlich für einen schlecht verhüllten Selbstmordversuch.»
Doch Lou Andreas-Salomé braucht viel mehr Geld, sie muss die Familien ihrer im Ersten Weltkrieg gefallenen Brüder in Russland unterstützen. Freud schickt ihr, was er entbehren kann, und Freunde raten ihr zur Pelztierzucht. Begeistert schafft sie sich Nutrias an. Und schafft es nicht, sie zu töten. Im aufbrandenden Nationalsozialismus schreibt sie an Anna Freud: «Richtig vernünftig sprechen kann man hier eigentlich nur mit den elf Nutrias.» Und die vermehren sich ungestört.
Friedrich Nietzsche ist da schon lange tot. Aber seine Schwester Elisabeth tut alles, um den Bruder zu Hitlers Lieblingsphilosophen zurecht zu stylen. Und sie denunziert die aus einem streng protestantischen Haus stammende Lou, die der «jüdischen» Wissenschaft der Psychoanalyse nachgeht, als Jüdin. Die Nazis werden sie zum Glück zu Lebzeiten nicht mehr behelligen. Lou Andreas-Salomé stirbt mit 76 Jahren am 5. Februar 1937 an Brustkrebs. Danach besetzt die Gestapo Loufried.
Sigmund Freud schreibt in seinem Nachruf auf sie: «Wer ihr näher kam, bekam den stärksten Eindruck von der Echtheit und der Harmonie ihres Wesens und konnte zu seinem Erstaunen feststellen, dass ihr alle weiblichen, vielleicht die meisten menschlichen Schwächen fremd oder im Lauf des Lebens von ihr überwunden worden waren.» Die in allem Überlegene war wieder in jene Höhen aufgefahren, aus denen sie einst herabgestiegen war.
Lou Andreas-Salomé: Das Haus. Roman. Telegramme Verlag, Zürich 2021. 242 Seiten, ca. 21 Franken.
Man erfährt beinahe mehr über die Frustration ihrer Liebhaber, als über ihre Sicht der Dinge und ich habe mich beim Lesen des Textes dauernd gefragt, wie es eigentlich bei den männlichen Geistesgrössen aussähe, wenn der entscheidende Faktor der Verbrauch an Frauen wäre? Das Ergebnis wäre vermutlich erschreckend!
Ich hätte gerne mehr vom Werk dieser Frau erfahren, aber dass kann ich ja jetzt nachholen und selber recherchieren.