Nora Fingscheidt, erzählen Sie uns bitte vom Anfang.
Ich war Ende zwanzig und drehte in Stuttgart einen Dokumentarfilm für die Caritas. In einem Heim für obdachlose Frauen. Eines Tages kommt eine Vierzehnjährige ins Heim, um da zu wohnen. Ich fand das schockierend, aber es hiess: Die ist sonst überall rausgefallen, die will keine andere Institution in der ganzen Bundesrepublik mehr aufnehmen, und wenn ein Kind älter als vierzehn ist, dann kann es in Deutschland auch im Obdachlosenheim wohnen.
Die will niemand mehr? So wie die neunjährige Benni in Ihrem Film also.
Genau. Meine Benni setzt sich aus den Geschichten von gut zwanzig Kindern zusammen, die ich für meine Recherche während vier, fünf Jahren getroffen habe. Kinder aus zerrütteten Verhältnissen, die man davor in fünfzehn oder auch fünfunddreissig Wohngruppen, Pflegefamilien, Sonderschulen oder anderen Organisationen für Jugendliche versucht hatte, unterzubringen ...
... und die dann eben jedes System sprengen? Die im Grunde unerziehbar sind?
Kinder, die sich jeder Art von System widersetzen, die eine unglaubliche anarchische Kraft entwickeln und derer die Erwachsenen nicht Herr werden können, die sich nicht bändigen oder kontrollieren lassen.
Im Film höchstens mal durch Medikamente. Benni wird immer mal wieder in die Psychiatrie eingeliefert und sediert, bevor es in die nächste Wohngruppe geht.
Es ist ein Kreislauf aus den immer gleichen Faktoren, die immer toxisch sind, immer gibt es schlechte Freunde, Wohngruppen, Familien, Stress in der Schule.
Eine andere Therapiemassnahme geht in Richtung der Dokusoap «Die schrecklichsten Eltern der Welt»: Es wird überlegt, Benni in ein Erziehungscamp nach Afrika zu schicken.
Auch das ist Realität. Solche Camps gibt es in Namibia, in Sibirien, in Spanien, auf den Kanarischen Inseln, in Rumänien, auf Malta ... Die Idee dahinter ist gut: Man holt die Kinder aus ihren Teufelskreisen raus, bringt sie ganz woanders hin und hofft, dass sie ohne die üblichen Verhaltensmuster noch einmal eine Chance haben, sich ganz neu zu finden. Aber natürlich geht das meistens schief. Ich kannte einen Jungen, der nach Sibirien ging, dort irgendwelche schiefen Dinge drehte und in den Knast kam. Die deutschen Behörden versuchten, dieses Kind aus dem Knast zu holen, aber die Russen sagten: Vergesst es! Oder ein Junge, der auf den Kanarischen Inseln das Hausschwein meuchelte und sich dann drei Wochen lang in Höhlen versteckte.
Deutschland hat Ihren Film jetzt für die Oscars eingereicht. Rechnen Sie sich Chancen aus?
Ganz ehrlich? Nein. Der Film hat seiner Premiere an der Berlinale zwar schon internationale Preise von Santiago bis Taipei eingeheimst und läuft in Deutschland ausgezeichnet im Kino, aber die Rezeption in den USA ist sehr einseitig, ich mach mir da keine riesigen Hoffnungen. Der Film ist für Amerika zu krass. Das Einzige, was dort interessiert, ist das Medikamententhema. Aber Amerika ist ja auch ein von Medikamenten terrorisiertes Land.
Verrückt. Apropos krass: Sie arbeiteten mit einem Kind, das ein Kind spielen muss, welches unter schweren seelischen Traumata und diversen Störungen leidet. Wie macht man sowas?
Wir wussten, das Drehbuch ist hart und die Hauptdarstellerin Helena Zengel ist erst neun, wir müssen da ganz behutsam dran. Wir hatten 67 Drehtage, was wahnsinnig viel ist, und Helena war an 65 Tagen dabei. Mit Kindern ist die Arbeit streng regelementiert, man darf nicht länger als fünf Stunden drehen. Daneben hatte sie eine Privatlehrerin, damit sie in der Schule nichts verpasst. Sie war vorher schon eine ausgezeichnete Schülerin gewesen, danach war sie noch besser. Die wenigen Zweien, die sie davor noch gehabt hatte, verwandelten sich in lauter Einsen.
Und seit der Berlinale verwandelte Deutschland sich für Helena in Hollywood.
Ja. Sie dreht jetzt gerade mit Tom Hanks unter der Regie von Paul Greengrass. Jemand von denen sah «Systemsprenger» an der Berlinale und wollte sie haben.
Hinter vielen Kindern im Showbiz stecken überehrgeizige Eltern. Auch hinter Helena?
Na ja, die Mutter ist jetzt zum Beispiel mit ihr nach Amerika zum Dreh gefahren, was auch verständlich ist. Aber der Rest kommt schon ganz allein aus der Kleinen. Die andern Eltern kenne ich auch, das sind Eltern, die sehen ihr Kind gar nicht, die sehen nur den Erfolg. Und dann tritt da so ein zitterndes kleines Wesen vor die Kamera und kriegt Tränen in die Augen, wenn es den Text nicht kann, das bricht mir dann das Herz.
Wie schwierig war es, ein Ausnahmetalent wie Helena zu finden?
Gar nicht. Gefunden habe ich Helena im November 2016. Da war sie noch acht. Sie war die Siebte im Casting und ich hab mir nach ihr noch 150 andere Mädchen angeschaut, weil ich mein Glück gar nicht zu fassen wagte. Aber ich kam immer wieder auf sie zurück. Und dann haben wir sechs Monate lang zusammen gearbeitet und uns langsam der Figur genähert. Wir waren zusammen in Secondhand-Läden und haben Bennis Kleider ausgesucht. Wir haben ihr ein Stofftier gekauft. Wir haben Listen gemacht: «Wie reagiert Benni» und «Wie reagiert Helena» auf ein bestimmtes Problem. Zum Glück war da eine grosse Differenz. Wir mussten das so präparieren, dass Helena während des Drehs in die Rolle rein- und nach der Arbeit wieder aus der Rolle rausschlüpfen konnte. Ich wollte, dass sie den Dreh mit dem Gefühl verlässt, eine schöne Erfahrung gemacht zu haben.
Im Grunde ist Benni ja Pippi Langstrumpf, die man gewaltsam versucht, in ein System zu zwängen.
Ja. Nur lieben alle Pippi im Gegensatz zu Benni.
Also erstens mochte ich Pippi als Kind nicht. Ich fürchtete mich vor ihr und hielt sie für eine ausgemachte Nervensäge. Zweitens ist Benni neben ihrer explosiven Aggressivität ja auch höchst liebenswert: Sie ist emotional sehr bedürftig, smart und sehr, sehr lustig.
Das stimmt.
Sie sind jetzt 36 und eine arrivierte deutsche Regisseurin. Ist das nicht grossartig?
Ja, total, das ist wunderbar, ich geniesse das gerade sehr. Ich habe jahrelang ohne einen Cent gearbeitet und jetzt interessieren sich die Leute plötzlich für meine weiteren Projekte.
Die da wären?
Das darf ich nicht verraten. Nur so viel: Nächste Woche ziehe ich mit meiner Familie nach Amerika.
«Systemsprenger» läuft an folgenden Terminen am ZFF:
Di, 1.10., 18 Uhr, Arena 7
So, 6.10., 12.30 Uhr, Riffraff 1
Ab 3. Oktober im regulären Kinoprogramm.
Viel Erfolg für Helena. Ich hoffe das sie eine schöne Kindheit haben wird.