Lucas, du bist mit einem Esel durch Marokkos Atlas-Gebirge gewandert. Warum?
Lucas Meyer: Ich hatte Lust darauf. Ich war zuvor mal in der Region und sah die vielen Leute mit ihren Eseln. Da dachte ich: Sowas müsste ich auch mal machen.
Aber du hattest einen ziemlich guten Job, bist die Karriereleiter hochgeklettert – und plötzlich willst du auf einem Esel durch Marokko wandern?
Stimmt, ich arbeitete bei einem Powerbank-Start-Up in Zürich. Eigentlich war alles super. Das Arbeitsklima war gut, die Mitarbeiter cool, ich hatte das Angebot einer Beförderung und hätte den Job erhalten, auf den ich schon länger hoffte. Dadurch hätte ich mehr Geld verdient. Es ging aufwärts.
War das so geplant?
Mein erster Berufswunsch war Bauer. Aber das Bauernhandwerk damals in der Schweiz mit aus meiner Sicht oft viel Monokulturen und konservativer Landwirtschaft gefiel mir nicht. Zudem hatte ich das Gefühl, dass ich Karriere machen und Geld verdienen muss. Ich absolvierte also ein Praktikum bei einer Bank und studierte dann BWL.
Bank, BWL, Beförderung, mehr Lohn – was ist passiert, dass du plötzlich einfach alles hingeschmissen hast?
Ich dachte einfach irgendwann: Das ist nicht mein Ding. Will ich das ein Leben lang? Ich verkaufe Powerbanks. Junge Leute laden sich damit ihr Handy auf, damit sie auf Snapchat herumhängen können ... (lacht). Nicht falsch verstehen: Ich liebte meinen Job und die Firma, aber schlussendlich habe ich Powerbanks verkauft. Es fühlte sich einfach so an, als ob ich langsam in dieses Hamsterrad der Karriere komme. Und plötzlich gewöhnst du dich an dieses Leben mit gutem Lohn und eigentlich allem, was viele als «du hast es geschafft» ansehen. Das wollte ich verhindern.
Hat es Mut gebraucht, das alles aufzugeben?
Wahrscheinlich schon (lacht). Ich spürte, es ist das Richtige. Auch wenn es im Moment keinen Sinn machte. Und die Umstellung war dann auch schwierig. Bis dahin war immer alles «geplant». Du gehst zur Schule, machst eine Ausbildung, findest einen Job. Nach der Kündigung kam dann aber plötzlich: nichts. Damit musste ich mich erst anfreunden. Ich hatte zwar Ideen, aber nichts Konkretes. Ich entschied dann, nach Marokko zu gehen, da ich Marrakesch von früheren Reisen kannte.
Du hast also gekündigt und bist ohne Plan nach Marrakesch?
Ja, ich wohnte bei einem Kollegen, machte einen Meditationskurs und fand dann via Freiwilligenarbeitsplattform den Bauernhof Sanctuary Slimane. Ich dachte, ich komme mal für eine Woche. Das war im Februar – jetzt bin ich immer noch hier.
Und wie kam das mit dem Esel genau?
Ich arbeitete meist im Garten, machte aber auch kürzere Reisen. Zum Beispiel fuhr ich mal mit einem Töffli über die Berge in die Sahara. Die Berge gefielen mir sehr und ich dachte: Da will ich wieder hin. Ich sah dort viele Menschen, die mit Eseln unterwegs waren und dachte: Wenn die das können, kann ich das auch.
Wo hast du den Esel aufgetrieben?
Hier auf dem Hof leben zwei Esel: Susi und Lucy.
Susi ist das Muttertier, das auch als Arbeitskraft oft gebraucht wird. Die vierjährige Tochter Lucy stand eigentlich immer nur rum. Ich erhielt die Erlaubnis, Lucy zu trainieren und sie dann auf die Reise mitzunehmen.
Hattest du Erfahrung mit Eseln?
Ich ritt früher hin und wieder auf Pferden. Das half, aber eigentlich hatte ich keine Erfahrung. Ich wusste einfach, dass ich mit Tieren umgehen kann.
Wie lange hast du mit Lucy trainiert?
Ich arbeitete vier Wochen mit ihr zusammen vor der Reise. Zu Beginn war nur schon ein Halsband anziehen und sie am Seil führen schwierig. Ich musste ihr aaaaalles beibringen. Sie erschrak beispielsweise wegen eines roten Tuchs, das am Boden lag und bewegte sich nicht mehr weiter.
Wie hast du das ohne Erfahrung hingekriegt?
Sehr viele Marokkaner können mit Eseln umgehen. Sie gaben mir unzählige Tipps und zeigten beispielsweise auch, was und wie sie essen muss. Allerdings gefiel mir ihre grundsätzliche Einstellung gegenüber dem Tier nicht. Sie erzogen mit Macht, ich wollte auf Geduld und Vertrauen setzen.
Hat sich das bewährt?
Ich denke schon. Allerdings musste ich teilweise auch eine gute Mischung finden.
Sind Esel so störrisch wie ihr Ruf, der ihnen vorauseilt?
Es gibt immer einen Grund, warum sie etwas nicht wollen. Esel sind sehr intelligent. Aber wenn sie Angst haben, dann stehen sie still, statt wegzurennen. Du musst immer herausfinden, was sie haben. Lucy zu lesen war ein schwieriger Punkt. Aber mit der Zeit wurde das besser.
Hast du ein Beispiel?
Einmal liefen wir eine Strasse entlang. Plötzlich war der Belag etwas feucht, nur so eine dunklere Färbung durch das Wasser. Lucy machte keinen Schritt mehr. Die Autos hupten, alle schrien. Ich wusste, dass ich sie jetzt beruhigen muss. Nach einer gefühlten Ewigkeit war sie soweit und wir konnten aus dem Weg. Es war sehr unangenehm.
Vom Karriere-Hamsterrad in die Millionen-Metropole in die Einsamkeit – eine bewusste Flucht?
In diesem Moment wollte ich einfach Ruhe und Einsamkeit finden. Irgendwo im Nirgendwo ein Nachtlager aufschlagen, einfach überall draussen schlafen und kochen können, meditieren und die Zeit geniessen.
Und war es so?
Leider nicht. Es war viel anstrengender. Ich stellte es mir anders vor. Komplett anders. (lacht)
Warum?
Es ist nicht so, wie auf Schweizer Wanderwegen in den Bergen, wo du oft alleine unterwegs bist. Hier kommst du in ein Dorf und dann stehen 20 Kinder um dich herum, schauen dich an, schreien dich an. Du bist die Hauptattraktion und alle Erwachsenen wollen dich einladen und mit dir reden. Immer. Überall. Einige sind mir auch mit einem Tablett mit Essen nachgerannt.
War das immer so?
Höher in den Bergen ist es dünner besiedelt und die Dörfer bestehen teilweise aus vielleicht zehn Familien. Aber da sind diese «Sicherheitschefs der Region». Die wissen jederzeit, was passiert. Sie wussten immer, wo ich bin, wohin ich gehe und was ich mache. Sie haben überall ihre Informanten und sagen dir dann, wo du übernachten musst und so weiter.
War das unangenehm?
Ja, schon auch. Es schränkte halt sehr ein. Andererseits wies man mir jeweils sogleich einen Platz zu, sobald ich in einem Dorf ankam. Das fühlte sich immerhin sicher an.
Haben die Leute verstanden, was du da in den Bergen mit dem Esel machen willst?
Es war schon nicht immer einfach. Vor allem auch, weil Lucy ein kleines Weibchen ist. In den Bergen halten sie fast nur grosse männliche Esel oder Maultiere. Sie rieten mir immer, ich solle Lucy verkaufen. Ich versuchte ihnen dann zu erklären, dass ich Lucy zurückbringen will und ich eine Art Verbindung zu ihr habe und sie schätze. Das verstanden sie nicht. Für sie sind Esel Nutztiere.
Gab es etwas, das du mit Lucy nicht machen konntest?
Ich wollte auf den Jbel Toubkal, den mit 4167 Metern höchsten Berg im Atlas. Ich nahm dafür einen Guide, der mit einem Maultier unterwegs war. Man muss dort als Ausländer sowieso einen Guide nehmen, weil es in der Vergangenheit Probleme mit Touristen gab. Das Maultier trug auch unser Gepäck und Lucy konnte «frei» herumlaufen. Das wäre anders nicht gegangen. Bis ganz auf den Gipfel kam sie dann nicht mit. Für mich war es ganz oben ein wunderbares Gefühl.
Welches war deine eindrücklichste Begegnung?
Es ist schwierig, eine herauszupicken. Extrem war einfach auch, wie schnell die Stimmung wechseln kann. Du wachst auf, die Sonne scheint, du frühstückst mit netten Menschen, dann ziehst du los und plötzlich kommst du vom Weg ab und weisst nicht mehr, wo du bist.
Was war diesbezüglich deine schlechteste Erfahrung?
Ich war unterwegs zu einem Pass auf 2500 bis 3000 Metern, als es langsam dunkel wurde. Ich suchte eine Unterkunft und fand eine Hirtenhütte aus Stein. Allerdings war sie abgeschlossen. Als ich Lucy dort an einem Stein festmachen wollte, kroch unter diesem ein Skorpion hervor. Ich entschied auf einem Felsen zu schlafen. Doch kaum hingelegt, begann es zu regnen. Da musste ich unter einen Felsvorsprung. Das war sehr unangenehm: Der Regen, zu wissen, dass da Skorpione sind, ich wusste nicht genau, wo wir waren, ich hatte keinen Handyempfang. Aber ich wusste: Morgen muss es weiter gehen.
Wolltest du aufgeben?
Das wäre da oben eigentlich gar nicht möglich gewesen. (lacht). Ich lief am nächsten Tag weiter und kam irgendwann in ein Dorf. Dort wurde ich wieder mit dieser überbordenden Gastfreundschaft begrüsst und alles war vergessen. Wie schon erwähnt: Es war teilweise eine Achterbahnfahrt.
Ich nehme an, die Menschen da in den Bergen haben wenig Kontakt mit Touristen.
Das ist so. Allerdings hatten die Leute, die näher an der «Zivilisation» leben, fast noch mehr Freude. In den Bergen bist du nicht mehr die riesige Attraktion, sondern einfach ein Reisender mit Esel, der Hunger hat und ein Bett sucht. Die Leute dort sind sehr, sehr arm. Sie leben in Lehmhütten und essen vor allem Brot und Gerstensuppe. Aber sie gaben mir und Lucy alles und würden niemals dafür irgendetwas von mir annehmen. Das war eindrücklich.
Was hast du auf der Reise gelernt?
Ich habe das einfache Leben kennengelernt. Und lernte es zu schätzen, wenn es einfach überall Strassen und Wege gibt. Sonst braucht alles sehr viel Zeit. Und dann natürlich den Luxus, an den wir uns gewöhnt haben. Auch wenn das beispielsweise nur sauberes Wasser ist oder die Tatsache, dass wir nicht jeden Tag Gerstensuppe essen müssen.
War dieses «Zeit benötigen» nur negativ?
Nein, eigentlich im Gegenteil. Ich finde es eher schlimm, wie wir in der Schweiz meist im Stress leben. Du kannst am Morgen in Zürich sein, am Mittag in Basel und am Abend in Bern. Solche Distanzen sind hier unmöglich zurückzulegen.
Würdest du eigentlich jedem so ein Eseltrekking empfehlen?
(überlegt). Jedem? Ich weiss nicht. (lacht). Es würde sicher jedem gut tun. Aber vielleicht nicht hier in Marokko. Ich würde es wohl nicht mehr so machen. Wobei: Wahrscheinlich doch. (lacht). Einfacher wäre es an einem Ort anzufangen, wo man die Sprache, Kultur und das Essen gut kennst.
Was können wir in der Schweiz von der Lebenseinstellung aus den Atlas-Bergen lernen?
In der Schweiz bist du immer mehr auf einen Job spezialisiert, alles andere wird abgegeben. Du kochst nicht mehr selbst, du gehst gleich zum Arzt ... Hier machen die Leute viel mehr noch selbst. Der Lohn ist dadurch auch kleiner, aber du gibst auch weniger aus.
Du bist jetzt zurück auf dem Permakultur-Bauernhof. Kann man da einen Zusammenhang mit den Leuten in den marokkanischen Bergen sehen?
Permakultur steht im Einklang mit der Natur. Wir bauen nachhaltig an und beuten den Boden nicht aus. Das geschieht in den Bergen noch, auch wenn das nicht aus Überlegungen zum Klimawandel oder Artensterben geschieht. Es ist einfach das einzige, was Sinn macht. Ich glaube, für die heutige Zeit ist es ein riesiges Thema. ich sehe Permakultur als gute Lösung. Aber das bezieht sich nicht nur auf Landwirtschaft. Es ist für mich mehr auch eine Lebensform. Wie man denkt, wie man miteinander umgeht, wie wir auf die Erde und Tiere schaut. Es geht um das Ganze.
Wie lange wirst du noch in Marokko bleiben?
Nicht mehr lange. Ich glaube, dass ich auf dem Hof alles gelernt habe, was ich kann. Ich möchte noch weitere Permakultur-Bauernhöfe in anderen Regionen besuchen. Und zu Weihnachten will ich sicher zurück in der Schweiz sein.
Kannst du dir vorstellen, wieder in der Schweiz zu leben?
Das kann ich. Aber mit Powerbanks oder auf einer Bank arbeiten: nein. Ich habe hier auch gelernt, dass man nicht zu grosse Pläne machen sollte. Eher mit dem Flow gehen und Gelegenheiten packen, wenn sie auftauchen. Ich bin eigentlich wieder an einem ähnlichen Punkt wie vor einem Jahr. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es irgendwo anders weitergeht. Mit einem Unterschied: Ich weiss jetzt, dass ins Blaue kündigen kein Problem ist. Es gibt immer irgendwo eine Türe, die aufgeht.