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Interview

Oliver ernährt sich nur von Flüssignahrung: «Die Vorteile sind enorm.»

Oliver Sturman an seinem Arbeitsplatz an der Universität Irchel: «Endlich kann ich Veganern sagen, sie sollen die Klappe halten.»
Oliver Sturman an seinem Arbeitsplatz an der Universität Irchel: «Endlich kann ich Veganern sagen, sie sollen die Klappe halten.»
Interview

Oliver Sturman ernährt sich nur noch von Flüssignahrung: «Die Vorteile sind enorm.»

28.08.2019, 18:4102.09.2019, 13:56
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Der Campus der Universität Irchel. Fernab vom altehrwürdigen Mief des ETH-Hauptgebäudes riecht es hier nach Moderne, nach Zukunft, nach Aufbruch. Und es riecht an diesem Dienstag nach Pouletschenkelragout. Zürcher Art versteht sich, mit Tagliatelle und Broccoli. «Einfach gut», heisst es über dem Menuplan in der Mensa. Für Vegetarier gibt es karamellisiertes Auberginenragout mit Jasmin-Reis oder Glarner Zigerhörnli. Dazu einen Menusalat.

Nichts von all dem gönnt sich Oliver Sturman. Der PhD-Student (Stressforschung am Institut für Neurowissenschaften) aus Nottinghamshire ernährt sich ausschliesslich von Huel. Huel ist Flüssignahrung – Pulver, das mit Wasser angerührt werden kann. Huel und auch die Konkurrenzprodukte Soylent, Jimmy Joy, Ambronite usw. versprechen einen derart ausgeklügelten und gesunden Inhaltsmix, dass damit komplett auf Festnahrung verzichtet werden kann. Statt eines herzhaften Bisses in einen Apfel gibt es einen Schluck Flüssignahrung. Vitamine, Ballaststoffe, Proteine, Kohlenhydrate – laut den Herstellern fehlt es an nichts.

Doch wie ergeht es jemandem, der sich seit Monaten nur noch so ernährt? Oliver Sturman stellt seinen riesigen Schüttelbecher auf den Tisch und wartet mit listigen Äuglein auf unsere Fragen. Dem Mann sitzt der Schalk im Nacken.

Herr Sturman, wann haben Sie mit der Umstellung auf Flüssignahrung begonnen?
Oliver Sturman:
Ich glaube es war der 4. Juli – mein persönlicher Independence Day vom klassischen Lebensmittelkonsum. Aber wenn ich ehrlich bin, startete ich vermutlich erst am fünften oder sechsten.

Und wie oft haben Sie in diesen knapp zwei Monaten einen Cheat-Day eingezogen?
In dieser Zeit habe ich drei «normale» Malzeiten zu mir genommen – manchmal kann man es einfach nicht umgehen. Wir hatten einen Gastreferenten mit dem wir ins Restaurant gingen. Da kann ich nicht einfach daneben sitzen und einen Liter Schleim in einem Plastikbecher runterspülen.

Auf die sozialen Hürden kommen wir noch zu sprechen – zuerst möchte ich aber wissen, wie es Ihnen nach zwei Monaten «Schleim» geht.
Gut.

Besser als zuvor?
Das kann man wohl so sagen.

Auf einer Skala von 0 bis 10. Wenn Sie vorher eine Fünf waren …
... [lachend] ich war eher eine Zwei.

Und jetzt?
Knapp drei vielleicht. Eine Zweikommasiebenfünf – nein [lacht schon wieder]. Im Ernst: Früher genehmigte ich mir immer mal wieder grosse Menus. Danach fühlt man sich schlapp und erschlagen. Sowas hat man mit der Flüssignahrung natürlich nicht. Alle Mahlzeiten enthalten die gleiche Menge Kalorien.

Und Ihr Grundgefühl? Besser? Oder gibt es Mangelerscheinungen, die Sie an sich bemerkt hätten?
Nein, nichts. Ich fühle mich eher besser.

Keine ausfallenden Zähne, eigenartige Hautausschläge oder Verdauungsprobleme?
Nein, nichts. Ich habe mich im Vorfeld natürlich informiert und gelesen, dass einige Leute zu Beginn Probleme mit der Verdauung kriegten. Ich hatte Glück und wurde verschont.

Das ist für mich als Interviewer jetzt ein bisschen enttäuschend.
Ja. Ich weiss. Aber leider gibt es keine interessanten Stuhlgeschichten. Was viele Leute interessiert, ist die Konsistenz.

Ich wollte gerade fragen.
Der Stuhl ist immer noch fest. Genau wie vorher. Das ist zwar keine Magie, sondern einfache Biologie, aber dennoch für viele Menschen überraschend. Bei der Urinmenge gibt es aber tatsächlich Veränderungen: Ich mag meine Nahrung nicht zu dickflüssig und rühre das Pulver jeweils mit etwas mehr Wasser an. So nehme ich etwa vier bis fünf Liter Flüssigkeit am Tag zu mir. Das führt dazu, dass ich am Nachmittag öfters mal auf die Toilette sprinte.

Als ich meinen Kollegen in der Redaktion erzählte, dass ich jemanden interviewe, der nur noch Flüssignahrung zu sich nimmt, war die Reaktion durchs Band dieselbe: Unverständnis.
Ja, das ist so die normale Reaktion. Man kann sie niemandem verübeln – aber eigentlich ist sie unbegründet. Diese Form der Ernährung bietet sehr viele Vorteile.

Erstellen Sie eine Liste mit allen Vorteilen.
Zeit ist der wichtigste Faktor. Also:

  1. Zeit, die ich gewinne, weil ich keine Nahrungsmittel mehr kaufen muss.
  2. Zeitgewinn bei der Zubereitung.
  3. Zeitgewinn, weil die Reinigung von Geschirr und Kochutensilien wegfällt. Alles in allem kommt da einiges zusammen.
  4. Flüssignahrung ist viel günstiger. Eine Mahlzeit kostet mich plusminus einen Franken.
  5. Bessere Kontrolle darüber, was ich einnehme. Das ginge zwar auch mit normalem Essen, ist aber erheblich aufwändiger.
  6. Erheblich weniger Foodwaste.
  7. Erheblich weniger Plastik- und anderer Abfall.
  8. Geringerer Energieaufwand der Nahrungsmittelproduktion.
  9. Und nicht zuletzt ernähre ich mich jetzt gesünder.

Sie betonen den Zeitgewinn. Das tönt nach typisch urbaner Effizienzsteigerungsmanie. Zeitgewinn, um einfach noch mehr arbeiten zu können.
Sagen Sie das meinem Chef nicht, aber ich arbeite seither nicht mehr. Ich habe einfach mehr Zeit für andere Dinge. Dinge, die mir persönlich mehr Spass bereiten als Küchenarbeit und Besorgungsstress. Zu Beginn hatte ich so viel mehr Zeit, dass ich nicht wusste, wohin damit. Ich habe dann mein Kleiderwasch-Game auf Vordermann gebracht. Das ist in der Schweiz ja auch sehr viel wert. Aber ich habe zum Beispiel auch mehr Zeit, um Freunde zu treffen.

Aber es geht doch auch um den Genuss …
… es gibt wahnsinnig gutes Essen. Aber wahnsinnig gutes Essen bedingt in der Regel viel Zeitaufwand oder hohe Kosten … Es gibt Leute, die trinken Wein wegen des Geschmacks. Andere wegen des Effekts. Ich gehöre eher zur zweiten Sorte. Ich bin resultateorientiert. Auch beim Essen. Ich will danach einfach keinen Hunger mehr haben. Und Flüssignahrung ist der perfekte Weg dahin.

Waren Sie ein guter Koch?
Ich kochte recht gerne und ich habe recht viel gebacken. Kuchen in der Regel. Aber es ist so viel einfacher ohne. Was tut man, wenn man spät am Abend nach einem anstrengenden Tag nach Hause kommt? Kochen? Oder einfach eine Pizza bestellen? Die Pizza ist nicht ausgewogen. Was ich zu mir nehme, ist sehr ausgewogen – und in der Zeit, in der ich kochen, essen und abwaschen würde, kann ich die Matrix-Trilogie schauen.

Vermissen Sie das Essen nicht? Ein Eis an einem heissen Sommertag?
Ich war nie grosser Fan von Glacé ...

Schokolade?
Schokolade ist gut. Aber es gibt eine Schokoladen-Geschmacksrichtung …

… Pringles?
Auch das. Ich mag Pringels, aber naja. In der ersten Woche habe ich sie vielleicht noch vermisst. Jetzt nicht mehr …

… Speck?
Oh, Speck. Speck ist gut. Der Duft von Speck in der Nase löst schon einiges aus. Vielleicht gibt es irgendwann einmal einen Speck-Shake.

Aber grundsätzlich kann man zusammenfassen, dass die meisten Bedürfnisse nach Festnahrung verschwunden sind?
Ja. Ungefähr so. Fleisch ist das Einzige, was ich vermutlich hin und wieder zu mir nehmen werde.

Könnten Sie denn zum Beispiel ein Steak überhaupt noch verdauen?
Nein. Mein letztes Cheat-Meal, es war ein schon lange versprochenes Abendessen, waren pikant gewürzte Chicken Wings. Was danach folgte, war eine Tortur. Aber glauben Sie mir, die Wings waren die Qual definitv wert [lacht]. Ich würde aber nicht empfehlen, mit pikanten Chicken Wings zur Festnahrung zurückzukehren.

In Ihrer Vorteilsliste erwähnen Sie den geringeren Abfall. Spielten beim Umstieg auch Gedanken an die Nachhaltigkeit eine Rolle?
Ich sorge mich um die Umwelt und das Klima – aber nicht genug, um deshalb meine Essgewohnheiten anzupassen. Ich bin definitiv kein Apostel. Aber jetzt kann ich es ja werden. Sogar vom moralischen Hochsitz eines Veganers herunter [lacht].

[Ernsthafter] Wenn man sich das heutige Modell der Nahrungsmittelverteilung anschaut, dann ist das doch verrückt. Der Aufwand, die Kosten, die Energie, die benötigt werden, um all die verschiedenen Nahrungsmittel aus all den verschiedenen Ländern und Orten an all die verschiedenen Verkaufsstellen zu transportieren – zum Teil tiefgekühlt. Es ist haarsträubend.

Ist Flüssignahrung effizienter?
Ich kenne den CO2-Fussabdruck von Huel nicht. Aber nur schon weil es vegan ist, ist es mit grosser Wahrscheinlichkeit effizienter. Huel muss nicht gekühlt werden und hat eine enorm lange Haltbarkeit. Ich zehre noch immer von meiner ersten Lieferung. Das ist effizient.

Das Produkt, das Sie einnehmen, ist vegan.
Ja. Jetzt besitze ich endlich die Legitimation, allen Veganern zu sagen, sie sollen die Klappe halten [lacht]. Auch hier gilt: Der Aufwand, den ich betreiben muss, ist viel geringer. Echte Veganer verbringen 120 Prozent ihres Lebens damit, Beeren zu jagen und Mandeln zu melken. Ich trinke einen Shake und weiss, dass ich mich ausgewogen ernähre.

Sind wissen es? Sind Sie sich da sicher?
Meine momentane Ernährung ist aus wissenschaftlicher Sicht ausgewogen. Die einzige Gefahr besteht darin, dass wir uns irren. Wissenschaft gibt keine 100 prozentige Sicherheit. Wir kennen die menschlichen Bedürfnisse nicht bis ins letzte Detail.

Wenn wir schon bei den Nachteilen sind. Erstellen Sie mir doch auch dazu eine Liste.

  1. [Lacht schallend] Der Geschmack.
  2. Die Konsistenz.

Der Geschmack?
Bei aller Fairness. Einige der Geschmacksrichtungen sind richtig, richtig … schlecht. Andere sind okay. Es gibt aber nur eine Geschmacksrichtung, die ich bisher nicht runter brachte. Aber ich verrate nicht welche.

Geben Sie uns einen Tip.
Nein, nein. Ich finde jeder hat das Recht, das selbst zu erleiden. Im Ernst: Ich habe natürlich die Tests gelesen im Internet. Jede Geschmacksrichtung hat ihre Fans und Feinde. Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten.

Und die Konsistenz?
Es ist, als würde man Porridge trinken.

In ihrer Nachteileliste fehlen die sozialen Aspekte.
Ich würde mich jetzt nicht als super sozial bezeichnen, deshalb stört mich das vielleicht weniger. Aber es stimmt, es herrscht ein gewisser sozialer Druck. Von den zwei Fragen: «Setzt du dich heute mit mir ein bisschen auf die Parkbank» und «Kommst du heute Abend auf ein Bier in den Park» ist nur eine okay. Die andere macht dich verdächtig.

Essen und Trinken ist nun mal sehr tief in unserer Lebensweise verankert …
… ich kenne die Sprüche. Polemisch könnte man sagen, wenn Essen derart viel in deinem Leben bedeutet, dann ist dein Leben eventuell halt auch nicht ganz so interessant.

Zurück zum Bier. Wie steht es eigentlich um das Feierabendbier?
In meinem ersten Monat war ich strikt und trank gar keinen Alkohol. Da gab es nur Flüssignahrung. Jetzt trinke ich aus oben genanntem Grund hin und wieder ein Bier. Aber ich schätze, nicht einmal mehr die Hälfte wie zuvor.

Weshalb die Abnahme?
Ich bin mir nicht sicher. Ich schätze, das hat mit der Einnahme der grossen Mengen an Flüssigkeit zu tun. Viel Bier hat einfach keinen Platz mehr. Vielleicht sollte ich auf Whisky umsteigen.

Werden Sie bei der Flüssignahrung bleiben oder trifft man Sie schon bald wieder in der Mensa an?
In die Mensa gehe ich sowieso. Einfach mit meinem Schleim. Dann setze ich mich zu meinen Kollegen und es ist wie früher.
Im Moment glaube ich, dass ich wohl dabei bleiben werde. Kochen werde ich vielleicht irgendwann einmal wieder. Aber sicher nur, wenn ich sehr, sehr viel Zeit dafür habe.

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134 Kommentare
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torpedo
28.08.2019 19:42registriert Februar 2016
Könnte bitte mal jemand nach Baroni schauen? Mache mir gerade etwas Sorgen....
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Madison Pierce
28.08.2019 19:14registriert September 2015
Interessante Idee. Aber ich würde das nicht so strikt sehen: wenn man mal wirklich keine Zeit für ein anständiges Essen hat, ist Flüssignahrung sicher besser, als eine Fertigpizza rein zu würgen.

Daraus eine Lebenseinstellung zu machen und jede normale Mahlzeit als "cheaten" zu bezeichnen finde ich hingegen übertrieben. Essen ist ja nicht nur Kalorienaufnahme, sondern Genuss und Gesellschaft.
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El Vals del Obrero
28.08.2019 19:06registriert Mai 2016
Er könnte sich doch eine Infusion legen, wie bei Spitalpatienten, die nicht normal essen können. Das wäre noch effizienter.

Wenn es für ihn so passt, absolut OK. Aber mir würde der Genussaspekt des Essens fehlen, mit der Gefahr, dass man das mit ungesünderen Sachen ausgleichen würde.
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