Julia Shaw ist Rechtspsychologin, bisexuell – und Buchautorin zu jeweils beiden Themen. Über ihr aktuelles Buch «Bi: Vielfältige Liebe entdecken» sagt sie: «Ich möchte die vielfältige Welt der Bisexualität aus dem Schatten holen.»
Dafür gründete Shaw sogar eigens eine Forschungsgruppe, leitete eine internationale Bisexualitäts-Forschungskonferenz und absolvierte einen Masterstudiengang in Queer History. watson spricht im Interview mit Julia Shaw über neue Wege, über die eigene sexuelle Identität nachzudenken und sie zu finden.
Frau Shaw, warum haben Menschen Angst davor, zuzugeben, dass sie sich vom gleichen Geschlecht angezogen fühlen?
Julia Shaw: Angst ist immer so ein grosses Wort. Aber ich glaube, es gibt sehr viele Menschen, die Gefühle gegenüber mehreren Geschlechtern haben, was ja die Definition von bi ist; die romantische oder sexuelle Anziehung zu mehreren Geschlechtern. Bisexualität wird oft nicht ernst genommen, beziehungsweise wird sie wahrgenommen wie eine Phase oder etwas, das nicht so solide ist wie Homo- oder Heterosexualität. Dementsprechend wird es auch von vielen Menschen nicht als Option für die eigene Identität gesehen. Wir wissen laut Forschung, dass bisexuelle Menschen sich am seltensten outen innerhalb der queeren Community. Vor diesem Buch haben wir eine lange Zeit sehr wenig über Bisexualität gesprochen.
Warum sollten wir mehr über Bisexualität sprechen?
Das ist wichtig, sonst ignorieren wir möglicherweise Gefühle gegenüber mehreren Geschlechtern und denken: «Ich habe mich schon als Teenager*in als hetero- oder homosexuell festgelegt und das kann sich nicht mehr ändern.» Es wird einfach gar nicht wahrgenommen. Man hat zum Beispiel plötzlich Gefühle für eine Person, die ein anderes Geschlecht hat als das eigene, aber man ignoriert das einfach, weil man ja homosexuell ist.
Was sind das für Vorurteile in der Community gegenüber Bisexuellen?
Als Bi-Frau ist die Annahme oft, dass man in Wahrheit heterosexuell ist, also dass der Akt performativ ist und nur für Männer. Das heisst, wenn ich mit Frau auf einem Date bin in einer queeren Bar, wird vielleicht angenommen – das wurde mir schon gesagt –, dass ich tatsächlich heterosexuell bin oder «ich doch eh zurück zu den Männern gehe». Es wird vermittelt, dass Bisexualität eine Phase ist, dass man eine Touristin ist in diesen queeren Spaces. Unterschwellig gibt es die Annahme, man nutze dieses Spaces für die eigenen Experimente aus. Dabei ist das doch auch etwas Schönes: Wenn man nicht mit der eigenen Sexualität experimentieren darf, weiss man doch nicht, was man mag. Ich verstehe zwar, warum die Community sich beschützen will. Gleichzeitig ist das nicht der richtige Weg: Bisexuelle Menschen sind nicht die Feinde in diesem Szenario, werden aber oft so wahrgenommen.
Und welche Vorurteile gibt es gegenüber bisexuellen Männern?
Bisexuelle Männer werden eher von der queeren Welt angenommen. Aber schwule Männer sehen sie häufig als tatsächlich schwul, das hat dann Implikationen für die heterosexuelle Welt. Wenn zum Beispiel ein Mann auf einem Date mit einer Frau ist, kommen blöde Sprüche wie «Du bist doch eigentlich schwul» oder sie «ekeln» sich und wollen dann nichts mit diesem Mann zu tun haben. Ich kenne leider viele Storys von bisexuellen Männern, denen das direkt ins Gesicht gesagt wird. Und bei Frauen heisst es dagegen «Wie geil», wenn sie auf Frauen stehen. Das ist die Hypersexualisierung von bisexuellen Frauen und die Nichtakzeptanz von bisexuellen Männern.
Du sagst im Buch, bisexuelle Menschen sind die grösste sexuelle Minderheit. Wie gross ist denn der Anteil an der Gesamtbevölkerung?
Innerhalb dieser Etiketten schwul/lesbisch/bi und so weiter sagen die meisten Menschen laut offiziellen Angaben, sie sind bi. Aber die Frage ist: Wie viele Menschen könnten dieses Etikett benutzen, aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht ausleben? Wie viele Menschen gibt es ausserhalb dieser offiziellen Statistiken? Es identifizieren sich noch viel mehr Menschen als bi, wenn man einfach fragt: Wo zwischen null und sechs auf der Kinsey-Skala ordnest du dich ein – zwischen 100 Prozent exklusiv heterosexuell und exklusiv homosexuell? Da sagt ungefähr ein Drittel der jungen Menschen, dass sie nicht 100 Prozent homo- oder heterosexuell sind. Und das ist ausschlaggebend dafür, wie wir über Bisexualität sprechen.
Identifizieren sich dann laut diesen Studien mehr Männer oder mehr Frauen als bisexuell?
Ungefähr doppelt so viele Frauen wie Männer. Ungefähr ein Drittel der trans Personen und nicht-binären Personen identifizieren sich auch als bi. Mehr, als man vielleicht erwartet. Vor allem, weil es manchmal die falsche Annahme gibt, dass bi trans-exklusiv ist. Aber bi ist ja die Anziehung zu mehreren Geschlechtern und nicht Männern und Frauen.
Warum hat sich das verändert?
Das weiss ich nicht. Aber ich nehme an, dass mehr Männer sich jetzt als homosexuell bezeichnen, die sich vorher als bisexuell bezeichnet hätten und dass mehr Frauen ihre eigene Sexualität ausleben und sagen: Ich habe auch eine Sexualität und die ist nicht heterosexuell. Es ist eine Mischung aus weiblichem Empowerment und Männern, die zu ihrer Homosexualität stehen. Für Bi-Männer ist es immer noch sehr schwer – nicht nur, sich zu outen, aber auch, sich so zu benehmen. Im Moment ist die Gesellschaft nicht so gut zu Bi-Männern wie zu Bi-Frauen. Es auf jeden Fall schwer, ein Bi-Mann zu sein. Was sexuelle Angriffe angeht, ist es allerdings schwerer, eine Bi-Frau zu sein.
Du sagst, sich selbst als bisexuell zu bezeichnen, kann das Leben jedes Einzelnen bereichern. Inwiefern?
Laut Forschung sagen die meisten Menschen, die ihre Bisexualität akzeptieren, dass sie das als eine Freiheit wahrnehmen, weil sie offener lieben und leben können. Da kann ich auch von mir selber sprechen: Ich habe total unterschätzt, was für einen Unterschied es macht, als Bi-Person out zu sein.
Wie hat das Outing dein Leben verändert?
Ich fühle mich wirklich so, als ob mein Herz grösser geworden wäre. Meine Kapazität für die Liebe, und wie ich mit Menschen umgehe, fühlt sich authentischer an als vorher. Das hätte ich nicht gedacht. Oft outen sich nach dem eigenen Coming-out auch andere einem Gegenüber. So habe ich einige Freundinnen gehabt, die mir gesagt haben, sie seien auch bi. Das weiss man nicht, bis man sich selber outet, weil man erst diesen Safe Space kreieren muss. Und plötzlich hat man eine Gruppe und denkt: «Wow, ich bin nicht alleine, sondern hier sind meine Menschen.» Und das ist was sehr, sehr Schönes. Wenn man sich die Forschung zu Einsamkeit und Zwangsstörungen anschaut, ist die Mitgliedschaft in einer queeren Community ein Puffer gegen negative Konsequenzen eines Outings.
Wenn sich jemand als bisexuell outet, sucht er dann nach Vorbildern, also Codes für Kleidung und Verhalten?
Dieses Hybride – ein bisschen feminin, ein bisschen maskulin – sehe ich inzwischen ab und zu bei bisexuellen Figuren im Fernsehen. Der «Bi-Style» ist eine Mischung aus lesbian-light oder gay-light. Bisexualität ist natürlich eine eigene Identität und nicht nur eine abgeschwächte Version von Homosexualität. Aber was die Kleidung angeht, will man das ein bisschen nachmachen. Denn Bi-Menschen versuchen, sich selber zu finden und zu identifizieren, wollen aber etwas Eigenes in dem Prozess kreieren. Aber weil es keine Vorbilder gibt, kann das sehr schwer sein. Sehr viele Bi-Menschen sprechen auch darüber, dass sie gerne eine visuelle Sprache hätten. Wir können ja auch einfach eine erfinden. (lacht)
Das wird halt dadurch erschwert, dass die Schwulencommunity noch weniger inklusiv ist als die Heteros. Wenn ich als Hetero mal mit Schwulen in ne Bar gehe, muss da immer betont werden, dass ich als Aussenseiter auch willkommen sei.
Von den legalen Orientierungen werden allerdings vermutlich polyamouröse am stärksten diskriminiert.