Malala Yousafzai wurde zur jüngsten Nobelpreisträgerin – jetzt erzählt sie ihre Geschichte
In einem Hubschrauber kehrte Malala Yousafzai 2018 ins pakistanische Swat-Tal zurück. Doch statt des quirligen Treibens fand sie ihre Heimatstadt Mingora menschenleer vor. Keine Kinder, die spielten, keine Busse, die hupten, keine Obstverkäufer, die ihre Ware anpriesen. Aus Sicherheitsgründen waren die Strassen gesperrt worden: Der berühmtesten Frau dieser Stadt durfte nicht erneut etwas zustossen.
Als sie ihre Heimat mehr als fünf Jahre zuvor in einem Hubschrauber verliess, war sie bewusstlos, spuckte Blut. Eine Schusswunde klaffte an ihrem Kopf. Kurz zuvor war ein Taliban in ihren Schulbus eingestiegen und fragte: «Wer von euch ist Malala?» Das damals 15-jährige Mädchen sass im hinteren Teil des Busses, blickte starr gerade aus. Sie drückte mit aller Kraft die Hand ihrer besten Freundin, als der Attentäter aus nächster Nähe ihr in den Kopf schoss.
Malala wurde zum Ziel der Terrororganisation, weil sie sich als 11-Jährige schon öffentlich für die Bildung von Mädchen starkmachte. Ihr Vater, ein Lehrer, baute im religiös-konservativen Swat-Tal eine Mädchenschule auf. Er war es auch, der seine Tochter zu einem Online-Tagebuch für die BBC ermutigte. Darin schrieb sie über ihren Alltag unter der Herrschaft der Taliban. Diese hatten in den Jahren zuvor die Kontrolle über die Region übernommen.
Die Terroristen zerstörten Mädchenschulen, verboten Musik und Unterhaltung, verbannten Frauen in ihre Häuser und richteten politische Gegner auf den Strassen hin. Zwar eroberte die pakistanische Armee das Swat-Tal zurück, doch es misslang ihnen, alle Taliban-Kämpfer zu vertreiben. Und diese hatten das widerspenstige Mädchen nicht vergessen.
Nach dem Attentat kam Malala schwer verletzt in einem Traumazentrum in der englischen Stadt Birmingham zu Bewusstsein. Während sie wieder lernen musste, zu sprechen und zu gehen, verbreitete sich ihre Geschichte rund um die Welt. Im Westen wurde sie zur Heldin, zur Lichtgestalt. In Pakistan allerdings verfingen Verschwörungsmythen: Sie und ihre Familie hätten das Attentat gefakt, um an Geld und britische Pässe zu kommen. Beleidigungen, Verwünschungen und Morddrohungen ergossen sich im Netz über das Mädchen.
In ihrem eben erschienen Buch beschreibt die heute 28-Jährige, wie sie sich völlig unvorbereitet auf der Weltbühne wiederfand. Wie andere die Figur der öffentlichen Malala erschaffen hatten, während sie genas – und wie sich das Bild eines mutigen und starken, gleichzeitig aber auch braven, tugendhaften und pflichtbewussten Mädchen festsetzte. Manchmal habe sie darüber lachen müssen: «Selbst an meinen vorbildlichsten Tagen war ich nicht die lammfromme Heilige, als die mich nun alle sehen wollten.»
In der Schulmensa sprach niemand mit ihr
Ihr aktuelles Buch handelt aber nur bedingt von der öffentlichen Malala. Vielmehr erzählt die junge Frau ihre Coming-of-Age-Geschichte. Es geht um ihre Selbstsuche; aber auch um ihre grosse Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach einem normalen Leben und der öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie als Aktivistin für Mädchenbildung benötigt. Noch im Krankenhaus gründete sie ihre Stiftung, den «Malala Fund». Fortan nutzte sie das Interesse an ihrer Person, um auf ihr Herzensanliegen aufmerksam zu machen. Was ihr gelang: Für ihr Engagement bekam sie im zarten Alter von 17 Jahren das, wonach mitunter die Mächtigsten dieser Welt gieren: den Friedensnobelpreis.
Bereits als Jugendliche jettete sie um die Welt, sprach mit Staatschefs und Adligen. Doch in ihrer Schulmensa in Birmingham sass sie alleine vor ihrem Mittagessen. Die Witze ihrer englischen Mitschülerinnen verstand sie inhaltlich nicht. Ihr Rock reichte – auf Geheiss ihrer Mutter – bis zu den Knöcheln, sie trug ein Hörgerät und konnte aufgrund ihres gelähmten Gesichtsmuskels – eine Folge des Attentats – kaum lächeln.
Trotz schweren Verletzungen, Einsamkeit und Medienrummel: Malala gelang einen guten Schulabschluss und die Aufnahme an der Elite-Uni in Oxford. Dort, fernab des Elternhauses, wollte sie ein so normales Leben wie möglich führen. Dafür googelte sie im Voraus «Selena Gomez casual» und kaufte sich heimlich Ankle-Boots und Jeans. Das neue Outfit sollte eine Art Tarnkleidung sein. Die Welt kannte Malala schliesslich nur in der traditionellen pakistanischen Tracht der Paschtunen – jener ethnischen Gruppe, zu der sie und ihre Familie gehören.
Sie steht permanent unter Beobachtung – auch als Studentin
Obwohl sie mit ihren Bodyguards auch auf dem Campus auffiel und wiederholt um Selfies gebeten wurde, schaffte sie den Neustart. Sie knüpfte Kontakte, schloss Freundschaften. Gleichzeitig war sie stets auf der Hut: Um Schlagzeilen zu verhindern, mied sie etwa Partys. Denn die Boulevardpresse verfolgte ihren Start in Oxford mit Argusaugen.
Ein Shitstorm rollte dennoch alsbald über sie hinweg. Ein Bild von Malala in Jeans, T-Shirt, Bomberjacke und Kopfschal sorgte in Pakistan für Empörung. Sie wurde als Verräterin und Pornostar beschimpft – und als Schande, weil sie alleine unterwegs war. Dies wiederum generierte in der englischen Klatschpresse Storys. Dort störten sich einige an ihrem Kopftuch, welches sie als Symbol der Unterdrückung sahen.
Der Shitstorm zeigt die Gratwanderung der jungen Frau auf – insbesondere, wenn sie sich an westlichen Sitten orientierte. Oder wie sie schreibt: «Wenn ich die Bildung und Gleichberechtigung für Mädchen und Frauen in Pakistan fördern wollte, durfte ich keinen Anstoss erregen.» Solange sie sich an die Regeln und Kleidervorschriften ihrer Kultur hielt, habe niemand sagen können: «Schau doch nur, was aus Malala geworden ist. Es ist richtig, dass wir unsere Töchter an der kurzen Leine halten.»
In Oxford beschloss die junge Frau jedoch, ihre eigenen Bedürfnisse nicht komplett den patriarchalen Ansprüchen unterzuordnen. Als Privatperson schlüpfte sie weiterhin in Jeans und Co. und trug ihr Kopftuch. Fast trotzig hält sie fest: So könnten die Mädchen in Pakistan wenigstens sehen, was möglich sei.
Obwohl sie sich während ihres Studiums amüsierte, sich Freiheiten herausnahm, wie Poker auszuprobieren oder ihren Schwarm alleine zu sich ins Zimmer einzuladen (passiert ist nie etwas, er ass bloss sämtliche Snacks von ihr), war ein steter Druck spürbar, bloss keine gröberen Fehler zu begehen.
Dazu gesellte sich eine immer grösser werdende Angst, die Anforderungen der Uni nicht zu packen. Oder wie sie schreibt: «Für meine Kritiker wäre das ein gefundenes Fressen: Die weltberühmte Verfechterin des Nutzens von Bildung, das Postergirl der Bücherwürmer und Streber, wird als Uni-Versagerin entlarvt.»
Das Attentat holt sie ein
Bis zu ihrer Zeit in Oxford hatte die junge Frau keine Erinnerung an das Attentat. Das änderte sich, als sie mit Freunden Marihuana rauchte. In Flashbacks sah sie plötzlich den Mann mit der Waffe, Blut, Fremde, die sich über sie beugen, ihr Vater, der ihre Hand ergreift, während sie auf einer Trage liegt. Panikwellen durchfluteten ihren Körper. Die Flashbacks kamen, sobald sie die Augen schloss. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Lernen war in diesem Zustand unmöglich, was ihre grundsätzliche Panik steigerte.
Immer deutlicher steuerte die junge Frau auf einen Zusammenbruch zu. Sie schottete sich ab, konnte ihre Gedanken und Ängste kaum mehr kontrollieren. Zwar hatten die Ärztinnen und Ärzte, die Malala direkt nach dem Attentat behandelt hatten, zu einer psychologischen Begleitung geraten. Doch ihre Eltern winkten damals ab. Sie hatten sie damit beschützen wollen, schreibt Malala im Buch. «In Pakistan werden psychische Probleme häufig ignoriert oder als betrachtet.»
Als ihr klar wurde, dass das Attentat daran war, alles, was sie sich aufgebaut hatte, zu zerstören, suchte sie sich Hilfe. Sie begann eine Therapie, lernte auf ihre Bedürfnisse und ihren Körper zu achten, und kam langsam wieder auf die Beine.
Sie bestand sämtliche Prüfungen an der Uni und schloss ihr Studium in Oxford ab: Ihr persönlicher Sieg über die Taliban. Den Terroristen ist es trotz massivster Gewalt nicht gelungen, ihren Willen und Weg zu brechen.
Bis heute setzt sich Malala Yousafzai für die Bildung von Mädchen ein. Das Wissen um den Horror, in dem die afghanischen Frauen seit der Machtübernahme der Taliban vor vier Jahren leben, haben erneut Panikattacken bei ihr ausgelöst. Gleichwohl lese sie jede Nachricht dazu, die sie erreicht, betont sie im Buch. Immer wieder prangert die Aktivistin die totale Unterdrückung der Frauen in Afghanistan an. Aber auch den Umgang der Weltgemeinschaft damit. Nicht nur darin zeigt sich: Ihr Mut ist ihr geblieben. Auch das Buch verdeutlicht ihre Unerschrockenheit, indem sie als Lichtgestalt ihre Schatten beleuchtet. (aargauerzeitung.ch)
