Ein Film über Napoleon Bonaparte, der unter vier Stunden dauert? Geht gar nicht. Für die «Larger than life»-Gestalt des Parvenüs aus Korsika, die halb Europa unterwarf und sich zum Kaiser der Franzosen (nicht von Frankreich!) krönte, ist nur cineastisches Überformat gut genug. Und selbst dann kann bestenfalls eine Annäherung gelingen.
Napoleon ist eine Figur, die zu gross ist für die Leinwand. Das zeigt auch der Versuch des 85-jährigen Regie-Workaholics Ridley Scott, der am Donnerstag in die Kinos kommt. Er «begnügt» sich mit zweieinhalb Stunden, der heute üblichen Durchschnittslänge, und scheitert prompt. Obwohl er mit Joaquin Phoenix einen tollen Hauptdarsteller hat.
Hier erst einmal ein Einschub: Napoleon ist laut Wikipedia mit mehr als 300 Auftritten in Film und Fernsehen die meist verfilmte historische Persönlichkeit. Klammert man Parodien und anderen Klamauk aus, kommt man jedoch zu einem ernüchternden Fazit: Viele Regisseure – und Schauspieler – haben sich an der Überfigur die Zähne ausgebissen.
Das gilt auch für einen Giganten wie Marlon Brando, der Napoleon in «Désirée» 1954 nur widerwillig gespielt hatte. Und für ein Genie wie Stanley Kubrick. Er hatte in den 1960ern ein Napoleon-Projekt vorbereitet, mit dem österreichischen Berserker Oskar Werner in der Hauptrolle. Doch als «Waterloo» 1970 floppte, bekamen die Produzenten kalte Füsse.
Einen Maniac wie Ridley Scott schreckt das nicht ab. Und eines muss man seinem «Napoleon» lassen: Visuell ist der Film eine Wucht. Allein die Bilder des Ägypten-Feldzugs sind umwerfend. Das gilt auch für die Schlachten, bei denen sich Scott auf wenige beschränkt. Kampfszenen kann der britische Regisseur, das weiss man seit «Gladiator».
Sosehr sich Scott jedoch um ein «Reduce to the max» bemüht: Der Film bleibt episodisch. Vieles wird nur angedeutet, etwa dass der Korse von seinen Feinden gleichzeitig bewundert und gehasst wurde. Nebenfiguren wie sein Förderer Paul Barras (Tahar Rahim) bleiben schemenhaft. Es braucht Vorwissen, um nicht vollkommen überfordert zu werden.
Der Russland-Feldzug von 1812, der den Mythos von Napoleons Unbesiegbarkeit zerstörte, wird im Eiltempo durchgekaut. Dafür verwendet Scott viel zu viel Zeit für die Niederlage bei Waterloo, die 1815 seinen endgültigen Sturz besiegelte, ohne dass deutlich wird, wie nahe Napoleon damals an einem Sieg über den Herzog von Wellington (Rupert Everett) war.
Und trotzdem ist «Napoleon» kein Reinfall. Das liegt am zweiten Erzählstrang, der Liebesgeschichte mit Joséphine de Beauharnais, der Tochter eines Plantagenbesitzers aus Martinique. Bonaparte hatte sie als junger General in den Wirren der Französischen Revolution geheiratet, weil er sich den gesellschaftlichen Aufstieg versprach.
Daraus entwickelte sich eine denkwürdige «Amour fou», geprägt von sexueller Leidenschaft der teilweise gewalttätigen Art. Schon kurz nach der Heirat betrogen sie sich schamlos und kamen doch nie voneinander los, auch nicht nach der Scheidung 1810, weil Joséphine (eine in jeder Hinsicht umwerfende Vanessa Kirby) keine Kinder gebären konnte.
Napoleon heiratete die österreichische Kaisertochter Marie-Louise, die ihm den ersehnten Erben bescherte. Der briefliche Kontakt mit Joséphine aber riss nie ab. Als er 1821 in der Verbannung auf der abgelegenen Atlantikinsel St. Helena vermutlich an Magenkrebs starb, soll ihr Name sein letztes Wort gewesen sein (das allerdings ist wie so vieles umstritten).
Immerhin erspart uns Scott den billigen Trick, dass Napoleon nach der Rückkehr aus dem ersten Exil auf der Insel Elba 1814 noch rechtzeitig ans Totenbett der sterbenden Joséphine eilt (andere Regisseure waren da weniger zimperlich). In Film wie Realität kam er zu spät. Joaquin Phoenix zieht in der Szene alle Register zwischen Wut und Verzweiflung.
Seine Darstellung des «Empéreur» ist ein Ereignis, weil er ihn weder als Lichtgestalt verklärt noch als Monster dämonisiert. Phoenix' Napoleon ist ein labiler Mensch. Vor der Erstürmung der von den Briten gehaltenen Festung Toulon 1792 macht er sich vor Angst fast in die Hose. Am Ende wurde der unbekannte Artillerieoffizier dadurch schlagartig berühmt.
Napoleon Bonaparte bleibt eine extrem zwiespältige Figur. Er war zur richtigen Zeit am richtigen Ort und profitierte bei seinen glänzenden Siegen von den Fehlern seiner Gegner. Die Opfer seiner Kriege (rund drei Millionen, heisst es am Ende des Films) blieben ihm gleichgültig, doch die sadistische Grausamkeit vieler Tyrannen war ihm fremd.
Einer derart titanischen Figur kann man filmisch vielleicht nie gerecht werden, auch nicht mit einem Ausnahme-Schauspieler wie Joaquin Phoenix. Deshalb ist Ridley Scotts «Napoleon» ein zwiespältiges und dennoch faszinierendes Erlebnis. Gleichzeitig arbeitet Scott bereits an einem mehr als vierstündigen Director’s Cut für Apple TV+.
Offenbar hat er kapiert, dass ein Napoleon-Film unter vier Stunden nicht geht. Und nicht nur er. Steven Spielberg kündigte im Februar an der Berlinale an, das Projekt des von ihm verehrten Stanley Kubrick produzieren zu wollen, als Miniserie für HBO. Mögen sich die Regisseure an Napoleon die Zähne ausbeissen, von ihm los kommen sie nicht.
«Napoleon» läuft ab dem 23. November im Kino.
Bin gespannt auf den Film und mir ziemlich sicher dass in den 2.5 Stunden „kleine Aspekte“ wie die Schweiz wohl keinen Platz finden werden…