«Spider-Man: Into the Spider-Verse» schlug 2018 in der Welt der animierten Blockbuster, in der es darum geht, vorwitzige Tiere sprechen zu lassen, und in der immer einschläfernden Art von Superhelden, die die Welt retten, wie eine Bombe ein. Er wurde er aus dem Hut gezaubert, ohne dass jemand mit ihm gerechnet hätte, stellte die Welt der Animationsfilme auf den Kopf und brach alle Rekorde. Auch musikalische Rekorde, denn der Song «Sunflower» von Swae Lee und Post Malone, der Teil des Soundtracks ist, ist immer noch der am häufigsten ausgezeichnete Song in den USA.
Was dieser Film so einzigartig machte, war seine visuelle Gestaltung, die den Fotorealismus à la Pixar gegen die Regeln von Comics und Illustrationen eintauschte und so eine nie zuvor gesehene Identität schuf. Ein Risiko, das sich auszahlte, da der Film 2019 mit einem Oscar ausgezeichnet wurde. Die visuelle Ausrichtung der Sony Animation Studios revolutionierte die Branche so sehr, dass sie andere kreative Studios dazu brachte, sich von den seit etwa 20 Jahren etablierten Standards zu lösen.
So war der Film eine echte Inspirationsquelle für andere, sei es für «Der gestiefelte Kater 2: Der letzte Wunsch» oder die nächsten Abenteuer der Ninja Turtles, die diesen Sommer in die Kinos kommen. Das Kino der bewegten Bilder sucht nun nach Einzigartigkeit.
Der Nachfolger «Spider-Man: Across the Spider-Verse» kommt mit einer grossen Macht und einer grossen Verantwortung: Er muss die Meisterleistung des ersten Teils wiederholen und versuchen, sie zu übertreffen, ohne unter dem Gewicht seiner Ambitionen zusammenzubrechen.
Miles Morales ist eine Comicfigur, die 2011 von Marvel geschaffen wurde, um der Vielfalt unserer Zeit gerecht zu werden. Im House of Ideas gibt es nämlich für jede Minderheit einen Superhelden (Marvel, seit 1939 im Wokismus). So folgen wir, wie du es vielleicht schon erraten hast, diesem afro-hispanischen Jugendlichen aus Brooklyn, der von einer etwas speziellen Spinne gebissen wurde. Er entdeckt seine Superkräfte und wird zu Spider-Man.
Zumindest einer der Spider-Men, denn wie wir seit einigen Jahren im Marvel-Universum wissen, gibt es Paralleluniversen mit unzähligen Versionen desselben Charakters: das Multiversum.
So sind alle Versionen von Spider-Man, sei es die japanische Version aus den 60er-Jahren, die von Sam Raimi popularisierte Version mit Tobey Maguire in der Titelrolle, der Zweiteiler mit Andrew Garfield oder auch die MCU-Version mit Tom Holland, nun kanonisch, da sie jeweils zu ihrem eigenen «Spider-Verse» gehören.
Das Konzept des Multiversums, das seit Jahrzehnten in den Comics präsent ist, wird nun in allen Variationen auf die Kinoleinwand gebracht, von «Spider-Man: No Way Home» bis zu «Doctor Strange in the Multiverse of Madness». Das Multiversum ermöglicht es den Autorinnen und Autoren, sich von allen kreativen Grenzen zu befreien, da alles möglich ist. Die Herausforderung bleibt jedoch dieselbe: Die Grenzen dieser Universen müssen erhalten bleiben, denn wie bei den Zeitreisen gilt auch hier: Wenn die Rahmenbedingungen verändert werden, drohen katastrophale Folgen.
«Spider-Man: A New Universe», dessen Originaltitel «Spider-Man: Into the Spider-Verse» verunstaltet und dem deutschen Marketing zum Opfer fiel, war der erste Teil einer Trilogie, deren mittlere Episode, «Across The Spider-Verse», ist derzeit in den Kinos zu sehen. Der Abschluss macht «Beyond the Spider-Verse» und ist für am 28. März angekündigt.
Der Film beginnt mit der pastellfarbenen Welt, in der das weibliche Pendant des Spinnenmanns, Gwen Stacy, lebt. Sie bemüht sich, ihre Aktivitäten als Ballerina-Rächerin vor ihrem Vater, einem Polizeihauptmann mit unnachgiebigen Moralvorstellungen, zu verbergen. In der Welt, die wir kennen, hat unterdessen auch der junge Miles Morales alle Mühe, sein Leben als Superheld, seine Familie und seine Schulbildung unter einen Hut zu bringen. Ein Superheldenalltag, der schnell durcheinander gebracht wird, als ein neuer Gegner auftaucht: The Spot.
Ein neuer Nemesis, der entschlossen ist, sich an Spider-Man zu rächen, und dessen Fähigkeit, durch die Dimensionen zu reisen, das Gleichgewicht des gesamten Multiversums gefährden könnte. Und so beginnt für die Zuschauenden eine Reise durch verschiedene Dimensionen, von denen eine so verrückt ist wie die andere. Von da an fliegt der Film in einem rasanten Tempo durch ein Kaleidoskop von Welten und Charakteren, ganz nach dem Prinzip, das im ersten Teil beabsichtigt war.
Jedes Universum und jede Variante von Spider-Man hat seinen eigenen Grafikstil. Das Fest für die Augen ist so gross, dass es eine Fülle von visuellen Darstellungen gibt, von denen einer kühner ist als der andere. Von einer indischen Version von Manhattan, die den Grafikstil alter Bollywood-Poster aufgreift, bis hin zu einem «punkigen» Spider-Man, dessen Figur vollständig aus Zeitungscollagen im Stil der Sex Pistols besteht, ist alles mit dabei.
Alles in diesem Film ist ein Fest für die Sinne, sodass es manchmal zu einer Überstimulation kommt, die an eine visuelle Orgie grenzt. Die technische Leistung ist jedoch unbestreitbar, denn trotz der Fülle an Effekten in jedem Moment bleibt die Handlung unglaublich lesbar und strukturiert. Der Film bietet den Zuschauenden völlig psychedelische Momente der Tapferkeit, die eher einer künstlerischen Leistung als einer Unterhaltung für das breite Publikum entsprechen.
Allerdings verliert sich der Film manchmal in diesem Übermass und in seinen erzählerischen Herausforderungen. All das über 2 Stunden und 20 Minuten kann manchmal ermüdend sein, ohne wirklich jemals langweilig zu werden. Dennoch muss man «Spider-Man: Across the Spider-Verse» zugutehalten, dass er im Gegensatz zu «Spider-Man: No Way Home» die Möglichkeiten des Multiversums voll ausschöpft, um ein totales Spektakel zu bieten, ohne sich jemals auf Fan-Service auszuruhen.
Der Film ist ein Fest des Überflusses, für eine Trilogie, die das Konzept des Multiversums auf die gleiche Weise erforscht, wie es die Trilogie «Zurück in die Zukunft» mit Zeitreisen tat. Und obwohl der Film ein Fest auf Schritt und Tritt ist, nimmt er sich auch die Zeit, die Figuren zu etablieren und Pausen zu bieten, in denen die Themen der jugendlichen Emanzipation und der Aufopferung angesprochen werden.
«Spider-Man: Across the Spider-Verse» ist nicht nur ein grossartiger, einfallsreicher Animationsfilm und ein Meisterwerk der Pop-Art, sondern auch eine hervorragende Fortsetzung und wahrscheinlich einer der besten Superheldenfilme, die ich seit Langem gesehen habe. In einer Zeit, in der Helden in Strumpfhosen immer fader geworden sind, schmeckt der neue «Spider-Man» wie ein saures Bonbon mit einer Wirkung, die an Ecstasy erinnert. So stellen wir es uns zumindest vor.
«Spider-Man: Across the Spider-Verse» läuft seit dem 1. Juni in den Deutschschweizer Kinos.