Man solle den 23-jährigen Verräter einfangen und ihm die Beine brechen, verlangte Nikita Chruschtschow. Der Grund für den Ausbruch des russischen Regierungschefs? Ein Tänzer! Am 16. Juni 1961 hatte sich nämlich der Ballettstar Rudolf Nurejew auf dem Pariser Flughafen Le Bourget erfolgreich in den Westen abgesetzt. Nurejews erste Station der Freiheit war Paris, wo wütende Kommunisten während seiner Vorstellung Stinkbomben und Tomaten auf die Bühne schmissen. Ungerührt sprang er durch den Rauch und über die glitschige Verwüstung hinweg und beendete eine seiner spektakulären Vorstellungen.
Dann ging's nach London, wo er sich mit Mick Jagger den Status des grössten männlichen Sexsymbols teilte. Und nach New York, wo sich die jungen Leute mit Kokain, Acid und Mescalin ausgerüstet ins Ballett setzten, um einen grösstmöglichen Flash aus der Kunst der virtuos bewegten Körper zu ziehen. 1963 erschien Nurejew in der gleichen Woche auf den Covern von «Newsweek» und «Time». Mehr Fame, mehr Popstar ging nicht.
Russland verurteilte den Flüchtigen in seiner Abwesenheit zu sieben Jahren Gefängnis und behandelte seine Familie als wäre er ein Schwerverbrecher. Seine Mutter flehte ihn an zurückzukommen. Doch sie sollte ihn erst an ihrem Sterbebett 1987 noch einmal sehen. Fünf Jahre bevor ihr Sohn mit 54 selbst starb. An AIDS.
Er wurde auf dem russischen Friedhof in der Nähe von Paris beigesetzt, sein liebster Bühnenbildner bereitete einen Teppich aus Tausenden von Mosaiksteinchen über dem grössten Superstar, den die Ballettwelt bis heute gesehen hat. Über den Mann, der leidenschaftlicher liebte und litt auf der Bühne, der höher und weiter sprang und schneller drehte als jeder andere vor ihm.
Und dies, obwohl er überhaupt erst mit 17 eine Profischule besuchen durfte und eine Karriere lang mit seiner eigenen physischen Unzulänglichkeit kämpfte. Damit, dass sein Körper nicht ganz so geschmeidig war wie die seiner Kollegen, die schon als Kinder den Drill russischer Ballettakademien erlebt hatten. Was ihm später zum Verhängnis wird. «Mit Frauen», so sagte er, «muss man sich so sehr anstrengen. Mit Männern geht es sehr schnell. Grosses Vergnügen.»
Denn 1975, mit 37 Jahren, ist Nurejew zu alt und verbraucht für das britische Royal Ballet, das für ein paar goldene Jahre seine Heimat als Starsolist war. Er tingelt durch TV-Shows, geht in die Verbannung der Gastauftritte an erst grösseren, bald immer kleineren Häusern, und obwohl er Multimillionär ist und sich zur Ruhe setzen könnte, tanzt er wie ein Besessener und alle schauen ihm beim Fallen zu, als Mensch und als Künstler.
Zuletzt, so heisst es, habe er nur noch für sich selbst getanzt, dem Publikum erschloss sich nicht mehr, was er auf der Bühne eigentlich tat. Wenn er nicht im Flieger sass oder tanzte, suchte er nach Sex. Er selbst bezeichnete sich als sexsüchtig. Und wie so viele Süchte führte ihn diese schliesslich in den Tod.
Rudolf Nurejews Flucht in den Westen ist eine typische Anekdote aus der Zeit des Kalten Kriegs. Der Schauspieler Ralph Fiennes hat sie zum Anlass seiner dritten Regiearbeit genommen, der Stoff beschäftigt ihn seit zwanzig Jahren, jetzt hat er den Schatz mit Hilfe der Nurejew-Biografin Julie Kavanagh, des Dramatikers und Drehbuchautors David Hare («The Hours», «The Reader») und der Nurejew-Freundin Clara Saint gehoben.
Das Ergebnis ist «The White Crow», ein zwar nicht ausgefallenes, aber ausgezeichnetes Biopic über einen jungen Mann, der es in seiner Kunst zum Gott brachte und die Freiheit mehr liebte als die Heimat. Und natürlich, wie es sich für einen Protagonisten romantischer Handlungsballette gehört: grosses, grosses Drama. Mit erstklassigem Thriller-Finale.
1938 kommt Nurejew während einer Zugfahrt zur Welt, seine Eltern sind arm, seine Kindheit ist karg, er selbst ein sturer, von sich überzeugter Einzelgänger, sonderbar wie eine «weisse Krähe». Als er endlich die Akademie in Leningrad besuchen darf, wohnt er bei seinem Lehrer Alexander Puschkin (Ralph Fiennes) und dessen Frau, die drei schlafen im gleichen Zimmer, Rudolf hinter einem Paravent, der das Ehebett von seinem trennt. Bald schläft auch die Lehrersgattin mit dem Wunderknaben.
Ballett ist damals in Russland für junge Männer sowas wie die edelste Form von Hochleistungssport, die russischen Kompanien, das Bolschoi-Ballett oder das Kirow, in dem Nurejew tanzt, sind technisch die besten der Welt. Und die emanzipiertesten. Denn nur in Russland ist der männliche Solist der Primaballerina ebenbürtig und nicht bloss deren Hebekran oder Krücke. Weshalb einer wie Nurejew in Paris, London und New York die Vorstellungen, die das Publikum von Balletttänzern bis anhin hatte, mühelos sprengt.
Kunst faszinierte ihn, besonders die Malerei. Als ästhetisches Erlebnis. Politisches Engagement ist nicht seine Sache. Als er 1961, mit 23 Jahren, zum ersten Mal den Westen sieht (und von diesem gefeiert wird), verliebt er sich in alles: Die Freiheit, das Geld, die Frivolität, dass er als Homosexueller kein Arbeitslager zu befürchten hat.
Er freundet sich mit der jungen Chilenin Clara Saint (Adèle Exarchopoulos) an, sie wäre die Schwiegertochter des französischen Kulturministers André Malraux geworden, doch ihr Verlobter kam wenige Wochen zuvor bei einem Autounfall ums Leben. Rudolf zerstreut sie, dafür bringt sie ihm die französische Lebensart näher. Die beiden bewegen sich derart frei und freizügig durch Paris, dass der KGB beschliesst, Nurejew nicht mit der Truppe nach London weiter reisen zu lassen, sondern zurück nach Russland zu schicken. Angeblich wegen einer Privatvorstellung für Chruschtschow.
Nurejew, der sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht mit der Möglichkeit einer Flucht beschäftigt hat, verfällt in Panik, zu bekannt sind ihm die Fälle anderer Künstler, die in Russland in die Vergessenheit schikaniert, verschleppt, eingesperrt, gefoltert wurden. Während die anderen Tänzerinnen und Tänzer die Maschine nach London besteigen, spielen sich hochdramatische Minuten ab, mit diplomatischer List bezwingt Clara Saint den KGB und verhilft Nurejew zur Flucht. Ein wahrer, historischer Thriller zwischen Ost und West. Da endet der Film. Nach den ersten sechs Kapiteln von Kavanghs Nurejew-Biografie, um genau zu sein.
Sehr schön wäre jetzt eine Fortsetzung – sehr gern auch wieder mit dem jungen russischen Tänzer Oleg Ivenko in der Hauptrolle. Darüber wie Nurejew London und New York eroberte, wie er zum jahrelangen Bühnenpartner der gut zwanzig Jahre älteren Primaballerina Margot Fonteyn wurde, ein Paar, so ungewöhnlich, hinreissend und legendär, wie es seither keine Bühne mehr gesehen hat. Wie er zwischen unzähligen Männern sehr selten, dafür umso wirkungsvoller auch mal eine Frau hatte, etwa Jackie Kennedys Schwester, Prinzessin Lee Radziwil. Wie er aufstieg und jämmerlich verglühte. Ein Star. Ein Stern.
«The White Crow» ist ab 29. August im Kino zu sehen.