Nach zwei Staffeln im und um den Jura kehren wir zum Ursprung der Serie zurück. Nach Oberwies, einem winzigen fiktiven Dorf im Bernischen. Dahin, wo Rosa Wilder (Sarah Spale) herkommt. In Oberwies dürfte die Hälfte der Bevölkerung bei der Polizei beschäftigt sein, was wirklich bemerkenswert ist. Alle weiteren Männer arbeiten im Bauunternehmen von Robert und Dani Räber. Eine Frau ist Postautofahrerin. Eine andere Wirtin in der Sonne. Eine dritte Lehrerin. Eine Kirche gibts auch noch. Sonst nichts. In Oberwies lassen alle immer ihre Haustüren offen, was praktisch ist, weil die Polizei so nie eine Türe eintreten muss.
Rosa ist nach Jahren in Amerika und anderswo in der Schweiz nach Oberwies zurückgekehrt. Sie hat sich mit ihrem kranken Vater Paul (Andreas Matti) ausgesöhnt und lebt mit Sohn Timmy (dem Sohn von Dani Räber) auf Pauls Bauernhof. Statt mit Blaulicht fährt sie jetzt mit einem Traktor durch die Gegend, was ihr selbstverständlich gut steht. Aus dem Polizeidienst ist sie ausgestiegen.
Doch dann geschieht, was bereits zu Beginn der letzten Staffel geschah: ein Polizistenmord. Beim hohen Polizistenanteil in Oberwies ist dies natürlich kein Wunder. Rosa wird gebraucht und kann nicht anders. Vor allem, als ihr Lieblingskollege Manfred Kägi (Marcus Signer), der gegen ein Baukartell ermitteln soll, auch noch auftaucht. Und langsam stellt sich die Frage: Gibt es unter den wenigen Leuten in Oberwies überhaupt irgendwen, der oder die unschuldig ist? Oder wie Kägi zu Wilder sagt: «Scho crazy, dis Dörfli.»
Sie nennt ihn «Kägi», er nennt sie «Rosa». Oft sind sie eine traurige Frau und ein trauriger Mann, zwei, denen es das Leben nie leicht gemacht und vieles genommen hat. Besonders das Vertrauen in die Menschen an sich. Sonst wären sie ja auch nicht bei der Polizei. Gerne treffen sie sich nach einem frustrierend abgründigen Arbeitstag in seinem Camper auf einen Tee oder davor auf ein Bier am Feuer. Er ist der Mann in ihrem Leben, der sie nicht verletzen wird, weil er nicht auf Frauen steht. Sie ist die todesmutige kleine Schwester, auf die er sich im Gegensatz zu seiner eigenen verlassen kann und die er immerzu beschützen will.
Die beiden gehen zunehmend rührend miteinander um, sie haben diese grosse, besondere Freundschaft, die es genau ein einziges Mal im Leben gibt, und das Ende der letzten Folge ist genau so, wie es sein sollte, nämlich zum Losflennen. Leute, wollt ihr eigentlich, dass wir euch in Zukunft an jedem einzelnen Fernsehabend vermissen? Klar wollt ihr das!
Es gibt dieses eine Wetter, das für Krimis das beste ist, das Winterwetter. Weil da eine Landschaft zur teilnahmslos erhabenen und eiskalten Leinwand für das Böse unter den Menschen wird. Vom Schnee hebt sich alles ab – oder wird davon als Geheimnis verborgen. Und die Winterlandschaft ist dem Menschen bei aller Schönheit feindlich gesonnen, eine weitere, latente Bedrohung.
Mit einer winzigen Ausnahme, quasi im Nachspann, ist in «Wilder IV» immer tiefster Winter. Kein Schleck beim Dreh, die Temperaturen auf dem Urnerboden waren öfter minus 18 Grad, aber visuell hat es sich gelohnt. Allerdings hätte man auf ein paar dekorative Drohnenflüge pro Folge verzichten können.
Ich weiss, die meisten Leute, besonders die aus Bern, können die poetische Verklärung des Berndeutschen nicht mehr hören. Und eigentlich ist es auch nicht sonderlich interessant, denn die meisten im «Wilder»-Ensemble mischen es (unfreiwillig) noch mit irgendwelchen anderen dialektalen Resten. Doch dann kommt Kägi und schmilzt einem mit jedem Satz die Ohren ab. Auch das unwirscheste «Was isch? Was luegsch so blöd?» oder «Bisch du no ganz bache!» erhält aus Marcus Signers Mund eine ungeahnte Musikalität. Dazu kommt Signers Kunst, Zynismus ganz easy mit Wärme zu paaren – und der grausam strengen Gewährsperson an meiner Seite entfuhr ein seliges: «Er ist schon der cooooolste Ermittler weit und breit!»
Ach, ist Henry süss! Er ist sehr klein und chruselig, hat die Farbe von angeschmutztem Schnee, und leider stellt uns SRF ausgerechnet von ihm kein Bild zur Verfügung. Henry gehört Kägis Mutter, aber die ist jetzt im Altersheim, und deshalb muss Kägi die kleine Chaoskugel gezwungenermassen in sein Leben und seinen Camper hereinlassen. Beide haben sich das leichter vorgestellt und es wird alles sehr herzzerreissend.
Nun, es gibt wie in den vorhergehenden drei «Wilder»-Staffeln auch hier wieder einige Leichen, muss es ja. Und logisch sind diese die Resultate nicht ganz so feiner Verbrechen. Die mildmütige «NZZ am Sonntag» war darob ganz erschüttert, was zu viel ist, ist zu viel! Nun haben wir diese Leichenwerdungen hochbesorgt Frame für Frame studiert und können euch versichern, dass jeder nackten Leiche in einer «Tatort»-Pathologie mehr direkte Gewalt angetan wird. Mit einer oder vielleicht zwei (durchschnittlich blutigen) Ausnahmen ist das immer sehr dezent gemacht, die Gewalt findet im Off statt, die Kamera hält nie drauf, aber klar, vieles vollzieht sich beim Zuschauen ja eh im Kopf.
Es gibt diverse Verbrechensschattierungen, von denen viele in Mord münden: dem Mord aus Ausweglosigkeit, dem Mord aus Rache, dem Mord im Affekt und so weiter. Und was sagt ein Schweizer Mörder nach vollbrachter Tat? «S tuet mer so leid.» Ehrlich! Aber auch stimmig im Spektrum der helvetischen Dauerverzagtheit.
In der letzten Staffel hatten wir mit Jesch (Michael Neuenschwander) definitiv den besten Täter der «Wilder»-Welt. Sagen wir so: Er wird auch in Staffel IV nicht in den Schatten gestellt. Jedenfalls nicht vom offensichtlichsten unter den Kriminellen, dem Erpresser Strunz (Sebastian Rudolph). Eine wahnsinnig schlecht geschriebene Rolle in einem sonst sehr sorgfältigen Drehbuch. Die zum Glück aber auch nicht so wichtig ist, weil die wahren Verbrechen in anderen und komplexeren Kontexten stattfinden. Strunz ist allerdings der Auslöser für eine sehr schön gemachte Actionsequenz, nämlich eine Verfolgungsjagd in einer Kiesgrube. Ein ungemein thrillertauglicher Ort.
Man wird ziemlich bald mit ein paar quälenden Fragen infiziert (sie werden aber alle beantwortet, eine letzte Staffel darf ja nichts in der Luft hängen lassen), etwa: Was hat es mit dem kleinen, bei einer Leiche gefundenen Metallstern auf sich? Von wem war das Kind, das Lehrerin Isabelle (Annina Euling ist die grosse Entdeckung der neuen Staffel) mit 15 gebar und weggeben musste? Was steckt hinter dem Unfall ihres Bruders Elias, der seither behindert ist? Und dem Mord an ihrem Mann? Und vor allem: Wie, himmuherrgotschtärnesiech, Kägi, geht es Henry???
Nicht nur Netflix rezykliert Erfolgsrezepte, auch «Wilder» wildert in den Wäldern der anderen. Die Nachfolgeproblematik in der Baufirma der Räbers ist in vielem an «Succession» angelehnt, es gibt (gut gemachte) surreale Traumsequenzen, die von «Twin Peaks» nur so triefen. Die Baukartell-Geschichte scheint von der grossen Bündner-Baukartell-Reportage in der «Republik» von 2018 inspiriert. Ein Schweizer Film, dessen Titel wir hier nicht erwähnen dürfen, weil er allein schon Spoiler genug wäre, dürfte kräftig ins Drehbuch gefunkt haben. Und natürlich ist «Wilder» so astrein dem skandinavischen Nordic Noir mit seinen Schneeleinwänden verwandt, wie das eine Serie nur sein kann. Immerhin ist das bei den Besten geklaut.
Wunderbar vielfältig, sensibel und dabei unsentimental durchdekliniert ist in dieser Staffel das grosse Gewebe, das uns alle mal geboren, geborgen oder betrogen hat, nämlich die Familie. Denn darauf beruht schliesslich das ganze Dorfleben von Oberwies, auf den familiären Verstrickungen und Fallstricken untereinander, die so viele Emotionen und Affekte hervorbringen, dass es vielen zu viel wird und anderen immer zu wenig bleibt.
Alle 6 Folgen der 4. Staffel gibt es ab dem 4. Januar auf Play Suisse zu sehen. Und bis zum 8. Februar immer dienstags um 20.05 Uhr auf SRF 1.
Meh Drama Märku!
…und jaaa…Kägi ist schon „e geile Siech“, eine Top-Rolle von Marcus Signer👏🏻👍🏻