Eine Frau nimmt den letzten Zug von Basel nach Zürich. Sie will zu Fuss durch die Stadt spazieren, um bei einer Freundin zu übernachten. Zwei Polizisten halten sie an, denn die Frau kann nur eine Prostituierte sein, wer zu dieser Tageszeit allein ist, befindet sich ganz klar auf Kundenfang, zudem trägt sie einen Mantel mit Wildkatzen-Muster und Hosen, liederlicher geht's gar nicht mehr. Ausweisen kann sie sich auch nicht, deshalb nehmen die Polizisten sie mit aufs Revier.
Die Frau ist 38 und die Anwältin Iris von Roten und wir sind im Jahr 1955. Sie schreibt einen Artikel über ihre Zürcher Erfahrung in der NZZ, ein Sturm bricht los, viele Schweizerinnen melden sich mit ähnlichen Erlebnissen, andere bleiben dabei, dass eine Frau nachts nur in Begleitung eines Mannes auf die Strasse gehöre. Es ist nur eines von vielen Erlebnissen, das Iris von Roten in ihrer These bestärkt, die Frau befinde sich in den 50ern nicht auf einer annehmbaren, dem Manne vergleichbaren gesellschaftlichen Stufe, sondern im Laufgitter.
1958 erscheint denn auch ihr Buch «Frauen im Laufgitter. Offene Worte zur Stellung der Frau». Sie verlangt nach der absoluten Gleichberechtigung: sozial, ökonomisch, politisch, libidinös. Sie verlangt dies schon seit vielen Jahren, zuerst als Journalistin, jetzt als Buchautorin. Wieso, fragt sie sich zum Beispiel, soll eine Frau nur einem Mann treu sein, wenn dieser doch neben der Ehe auch noch das Geschäftsmodell der Prostitution zur Verfügung hat? Und wie viele Kinder soll man mit dem gleichen Mann eigentlich machen? Doch höchstens eins, im absoluten Liebesrausch gezeugt. Danach der Nächste bitte.
«Obwohl die gegenseitigen Liebeserklärungen bei Frauen und Männern aufs Wort gleich lauten und ihr sinnlicher Genuss des Geschlechtsaktes alles in allem erstaunlich ähnlich zu sein scheint, so haben die beiden zumindest nach der Vereinigung Probleme sehr verschiedener Grössenordnung im Kopf: Sie fragt sich, ob sie ein Kind bekommen werde, er höchstens, wo sein Tramabonnement geblieben sei.» (Iris von Roten)
«Madame, Sie müssen ein schönes Scheusal von einem Mann haben, dass Sie Ihr Buch Frauen im Laufgitter schreiben konnten!» (Leserbrief aus St.Gallen, September 1958)
Haushalt ist für Iris von Roten das lästigste aller Übel. Wozu soll sich eine Frau zu unbezahlter Zwangsarbeit verpflichten, wenn es für jede einzelne Aufgabe ausgebildete Fachkräfte gibt, die das gegen Bezahlung erledigen können? Köchinnen, Wäscherinnen, Putzfrauen, Ammen? Spätestens hier wird klar, dass Iris von Roten ihren Feminismus nicht wirklich von der Strasse her betreibt, sondern aus der privilegierten Position einer Anwältin und Anwaltsgattin, die zudem aus begütertem Haus stammt. Sie selbst überlässt ihren Haushalt dem Personal und ihre Tochter Hortensia bald nach der Geburt einer Krippe, sie hat gerade Lust zu reisen und keine Absicht, sich dem Still-Diktat zu unterwerfen.
Auch sonst hat die aus Basel stammende Iris keine Absicht, sich irgendwelchen Konventionen unterzuordnen, doch da ist ihr geliebter Peter, ein Katholik aus dem streng katholischen Wallis. Die beiden lernen sich 1939 als Studierende kennen, sie sind zwei ausnehmend attraktive und ausnehmend streitsüchtige junge Menschen, die sich schnell wieder verkrachen: «Diese grässlichen Gewitter, die mich überfallen, wenn ich mit jungen Männern zusammen bin», schreibt sie.
Ihre Kleider lässt sie sich nach eigenen Entwürfen schneidern, unter Pseudonym schreibt sie Stilkolumnen für eine Zeitung, Frauen, die mit weniger attraktiven Männern zusammen sind, werden gnadenlos abgekanzelt. Zu einem ihrer vielen Jobs gehört auch der einer Reklamechefin im Modehaus Hanro, wo sie luftige Texte für feine Unterwäsche dichtet.
Über die Jahre verlieben und trennen sich Iris und Peter immer wieder, bis es schliesslich 1946 zur heimlichen Hochzeit kommt. Er wünscht sich, dass sie als Jungfrau und als Neu-Katholikin in die Ehe eintritt. Ersteres schafft sie tatsächlich knapp, doch beim Katholizismus geht ihr die Geduld aus. Iris und Peter setzen einen Ehevertrag auf: Sie muss keine Hausarbeit verrichten, und beide sollen in allem voneinander unabhängig bleiben.
Abgesehen von seiner katholischen Schlagseite bewundert und unterstützt Peter von Roten seine Frau in allem. Als Nationalrat setzt er sich für Gleichberechtigung ein, «Frauen im Laufgitter» hält er für ein Meisterwerk, das fortschrittlicher und zugänglicher sei als Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht», und wenn Iris irgendwo aneckt, was sie täglich mehrfach tut, ist er stolz auf sie.
«Liebe Frau Doktor, Ihr unerhörtes Buch ‹Frauen im Laufgitter› finde ich eines der besten Argumente gegen die ‹Frauenrechte›. Ich werde es allen meinen Bekannten bestens empfehlen!» (Undatierter Leserbrief)
Die beiden betreiben eine Anwaltskanzlei, erst in Visp, wo sich Iris Kommentare gefallen lassen muss wie «Die Kuh soll im Stall bleiben und sich melken lassen», später in Basel. Nachdem «Frauen im Laufgitter» erschienen ist, wird ihre Kanzlei von ehemüden, scheidungswilligen Frauen überschwemmt.
Noch grösser ist allerdings der Hass, der Iris von Roten entgegenbrandet. Als das Schweizer Frauenstimmrecht am 1. Februar 1959 abgelehnt wird, geben gemässigtere Feministinnen der radikalen von Roten eine gehörige Mitschuld am Misserfolg. Ihr neues Buch «Frauenstimmrechtsbrevier: Vom schweizerischen Patentmittel gegen das Frauenstimmrecht» erhält zwar mildere Kritiken als «Frauen im Laufgitter», aber sie gilt jetzt als Gift für die Verlage.
Als sie den Feminismus zugunsten der Reiseliteratur aufgibt, stösst sie entweder auf Ablehnung oder die Eingriffe in ihre Texte sind derart grob, dass sie das Schreiben im Alter von 43 Jahren zermürbt aufgibt. Sie flüchtet sich neben ihrem Job als Anwältin in die Blumenmalerei, es wird ihr Trost, es ist hemmungslos schön, die Bilder, die sie malt, könnten in ihrer Klarheit und Farbigkeit auch prächtige Stoffmuster sein.
Am 11. September 1990 erhängt sich die 73-Jährige in ihrem Haus am Heuberg in Basel. Ihre Gesundheit hatte sich verschlechtert, und sie wollte ihrem Leben so selbstbestimmt ein Ende setzen, wie sie sich dies in allem gewünscht hatte. Ihr Peter wusste Bescheid, monatelang hatte sie Selbstmordmethoden recherchiert, mit Ärzten geredet und ihren Freundeskreis ungeniert mit ihren Plänen behelligt.
Schliesslich hatte sie sich fürs Erhängen entschieden, und gelernt, wie man sich am besten mit welchem Knoten eine Schlinge bastelt. Am Morgen des 11. Septembers verabschiedet sie ihren Mann mit den Worten «Bitte, Peter, koch heute nur ein Ei – denk an das Cholesterin» vom Frühstückstisch. Als er am Mittag wiederkommt, lebt sie nicht mehr. Er bewundert sie sehr dafür. Sie habe, von einem Dachbalken hängend, gewirkt «wie ein grosses Ausrufungszeichen nach einem tapferen Satz», schreibt er.
...hart in dieser Welt...
Die Leserbrief Schreiber von damals ...haben sich vermehrt 🙈