Tag für Tag ein Strauss Rosen, hin und wieder Pralinen. Komplimente, vielsagende Blicke. Einen Menschen zu umwerben, gestaltete sich vor noch nicht allzu langer Zeit als kompliziert und langwierig. Eine von gesellschaftlichen Normen geprägte Angelegenheit war das. Und stellte sich das Interesse als gegenseitig heraus, wartete meist noch ein grollender Vater darauf, den Liebeskandidaten – zumindest verbal – zu zerpflücken.
Heute geht das in einem Wisch. Nach rechts, auf dem Smartphone. Und dann heisst es: «It's a Match!».
Vor zehn Jahren wurde in den USA eine App ins Leben gerufen, die die Partnersuche in der westlichen Welt revolutionieren sollte: Tinder. Übersetzt bedeutet das so viel wie Zunder. Passt. Mit dem von Co-Gründer Jonathan Badeen erfundenen «Swiperight» signalisiert man in Sekundenschnelle Interesse an der jeweiligen Person anhand deren Profilfoto. Wischen beide nach rechts, können sie einander kontaktieren und allenfalls ein Date vereinbaren. Ein Wisch nach links, und die Person verschwindet in den unendlichen Weiten des Internets. Bye.
Heute gilt Tinder als die mit um die 70 Millionen Nutzerinnen und Nutzern erfolgreichste Lifestyle-App weltweit. Doch ihre Popularität bröckelt: Im vergangenen Jahr gingen die Downloads um fünf Prozent zurück. Aktuell dümpelt Tinder in der Stagnation, während Konkurrenten wie «Bumble», «Once» oder «Thursday» konstant wachsen – ihnen ist gemein, dass sie exklusivere Datingwege anbieten, sei es über Vorselektion oder auch Einschränkung auf bestimmte Wochentage.
Und nun, da Dates wieder uneingeschränkt möglich sind und die Hoffnungen entsprechend gross waren, dass Tinder zulegt, geschieht das Gegenteil: Die Zahl der Neuanmeldungen habe noch nicht das Level von vor der Covid-Krise erreicht, konstatierte Gary Swidler, Finanzchef der Tinder-Mutter Match Group, gegenüber der «Financial Times». Unter anderem wohl darum brach die Aktie des Konzerns Anfang August um mehr als 20 Prozent ein, Tinder-Chefin Renate Nyborg musste nach einem Jahr gehen. Sowohl die Etablierung einer eigenen virtuellen Währung ging schief als auch der Versuch, im Metaverse Fuss zu fassen. Wo sich Tinder im unterdessen höchst diversen Online-Dating-Universum in Zukunft positionieren will, scheint unklar.
Das liegt auch am veränderten Datingverhalten der wichtigsten Zielgruppe: Frauen und Männer zwischen 18 und 25 Jahren. Das Sexleben der Generation Z, «Zoomers» genannt, unterscheidet sich von ihren Vorgängern, den Millennials und der Generation X, die Tinder mehrheitlich nach dem Motto «Mit Tinder geht's gschwinder» für Sex-Dates nutzten und nutzen.
Eine Studie der Rutgers University in New Jersey kam zum Ergebnis, dass Amerikanerinnen und Amerikaner zwischen 18 und 23 Jahren weniger «Casual Sex» – also Sex ausserhalb einer festen Bindung – haben. In einer Zeitspanne von zehn Jahren sank die Prozentzahl der Männer, die im jeweils vergangenen Monat unverbindlichen Sex hatten, von 38 auf 24 Prozent, bei Frauen von 31 auf 22 Prozent. 2019 ergab zudem eine landesweite Umfrage eines australischen TV-Senders, dass 40 Prozent aller Befragten zwischen 18 und 24 Jahren noch überhaupt keinen Geschlechtsverkehr gehabt hat. Und die Anhängerschaft der Bewegung, sexuell enthaltsam zu leben, wächst und wächst. Sie drückt sich auf sozialen Medien unter #celibacy aus. Allein auf Tiktok hat der Hashtag 66 Millionen Aufrufe.
Ist die Generation Z demnach prüde, ja gar verklemmt? Das Gegenteil sei der Fall, sagt Psychologin Stefanie Gonin von der Universität Bern: «Diese Menschen wurden von klein auf mit frei zugänglichen sexuellen respektive pornografischen Inhalten im Internet konfrontiert und entsprechend sozialisiert.» Frühere Generationen mussten aktiv danach suchen, sexuelle Inhalte seien ein knappes Gut gewesen. «Heute sind wir sexuell freier denn je, man kann und darf ausprobieren, zudem ist alles okay hinsichtlich sexueller Identität.» Diese Vielfalt könne bei unerfahrenen, jungen Menschen Angst erzeugen, zu Überforderung führen und schliesslich zu einer Gegenreaktion, zur Frage: «Wer bin ich und was möchte ich eigentlich?»
In dieser Phase sei Rückzug etwas völlig Normales, so Gonin, um eine gewisse Selbstfindung zu erreichen und herauszufinden, wo die eigenen Vorlieben liegen. «Oberflächliche Abenteuer bieten dabei im Gegensatz zur Partnerschaft nicht die Möglichkeit, die Identitätsentwicklung und Klärung der sexuellen Vorlieben zu unterstützen»
Die Zürcher Sexologin Andrea Burri sieht ebenso Anzeichen dafür, dass die Gesellschaft «ein wenig oversexed» sei: «Es wird so ein Riesentamtam um Sex gemacht, dass es zwangsläufig zu einer Ermüdungserscheinung kommen muss.» Daher fände sie es gut, so Burri, dass einige Gegensteuer geben und sich bewusster positionieren, ja ein wenig Distanz gewinnen.
Das «Oversexed»-Gefühl kennt Marlon*, 26 und seit zwei Jahren in einer Beziehung, nur zu gut. Als Single habe er Tinder eine Weile regelmässig genutzt, doch die App habe sich für ihn ziemlich schnell totgelaufen: «Das ewige Rumgeswipe, all die krass inszenierten Fotos, das hat mich richtiggehend erschöpft.»
Abgesehen von Marlon haben wir mit weiteren Menschen zwischen 19 und 26 Jahren über ihre Einstellung zu Sex und Haltung zu Tinder gesprochen. Auffällig: Ein Grossteil davon befindet sich trotz des jungen Alters in einer festen Beziehung. Und das sehr bewusst: Für sie komme Sex nur in einer Partnerschaft in Frage, hält Isabel, 22 Jahre, fest. Von «One Night Stands» halte sie nichts. Carla, 24, sieht es ähnlich: «Eine vertrauensvolle Beziehung ist für mich die Basis für Intimität.» Sie ist bereits seit sechs Jahren vergeben und dankbar für diese Bezugsperson, die für sie in dieser wirtschaftlich und politisch unsicheren Zeit ein Anker sei. Für Gonin von der Uni Bern kommt diese Einstellung nicht überraschend: «In instabileren Zeiten sucht der Mensch instinktiv nach emotionalem Halt bei primären Bindungspersonen.» Darum komme es in solchen Perioden auch zu deutlich weniger Scheidungen.
Als Carla Single war, kam ein Account bei Tinder für sie nicht in Frage. «Wer sich damals dort herumtrieb, galt als ?desperate?. Es waren jene, die im echten Leben niemanden abbekamen, so sahen wir das.» Heute könne sie sich durchaus vorstellen, falls sie mal alleinstehend sein sollte, ein Konto einzurichten: «Aber ohne Sex-Masche. Mehr im Sinne des ?Slow Datings?, bei dem man sich allmählich kennen lernt.»
Oliver, 19 Jahre und Single, schliesst ganz aus, dass er sich auf Tinder anmeldet: «Die App ist für mich nicht relevant, zu oberflächlich. Klar ist das Aussehen wichtig, aber da spielen so viel mehr Komponenten rein, etwa der Charakter oder der Humor. Dinge, die man bei Tinder nur bedingt oder gar nicht herausspürt.» Er ziehe es ohnehin vor, Leute im «real Life» kennen zu lernen: «Ich klebte während der Pandemie und den Lockdowns lange und oft genug am Handy fest.» Ja, etwas «Festes würde er schon noch angenehm finden, «und Tinder erachte ich nicht als die beste Methode, um jemanden kennen zu lernen für eine längere Beziehung. Auf schnellen Sex bin ich nicht aus.»
Sexologin Burri gibt an, dass rund 30 Prozent ihrer Klientinnen und Klienten der Generation Z angehören. Sie kann die Beobachtungen, die Oliver und Marlon gemacht haben, insofern bestätigen, dass sie seit einiger Zeit öfter das Feedback erhalte, Tinder habe sich zu einer Selbstinszenierungsplattform entwickelt, bei der es nicht wirklich darum gehe, jemanden kennen zu lernen. «Sondern nur noch darum, sich mit durchgestylten Bildern darzustellen und möglichst viele egoschmeichelnde Matches zu kriegen», so Burri. Entsprechend würden dort einige Klientinnen und Klienten nicht finden, wonach sie suchen. «Sie werden oftmals noch frustrierter im Sinne von: Wenn ich es auf Tinder nicht hinkriege, wo dann?» Aber nicht nur, dass Tinder zunehmend zur «Likes»-Plattform à la Facebook und Instagram verkommt, dürfte die Jungen abstossen. Die Gefahr, dass sie auf der Dating-App einem alleinstehenden Elternteil «begegnen» – Angehörigen der Generation X -, ist durchaus real.
Alle von dieser Zeitung befragten «Zoomers» können Tinder dennoch etwas Positives abgewinnen. Sie halten es für möglich, die App in den Ferien oder auf Geschäftsreisen zu nutzen, um vor Ort die «Locals» kennen zu lernen – auf freundschaftlicher Basis. Auch Tinder-Mitbegründer Badeen gab in einem Interview mit dem «Spiegel» an, dass er Tinder immer öfter dafür nutze.
Vielleicht ist das jenes Schlupfloch für Tinder, um wieder zurück auf Spur zu kommen.
* Namen aller Befragten der Generation Z wurden auf Wunsch geändert. (aargauerzeitung.ch)
Dochdoch, ich habe Tinder nur, um auf Geschäftsreisen vor Ort die «Locals» kennen zu lernen – auf freundschaftlicher Basis!