Es war einer dieser Sätze, die man achtlos so dahinsagt: «Du hast sicher Alzheimer.» Das sagte Thomas Senn zu seiner Frau, als sie wieder einmal einen Termin durcheinandergebracht hatte. Heute wünscht er sich, er hätte diesen Satz nie gesagt. Denn die Diagnose, die Sandra Senn (beide Namen geändert) im Januar erhielt, lautet: Alzheimer im Frühstadium.
Bis vor einem Jahr leitete die 55-Jährige einen Tankstellenshop, war verantwortlich für das Sortiment und ihr Team. «Beides hattest du hervorragend im Griff», sagt Thomas stolz zu seiner Frau. Doch dann begannen sich Fehler einzuschleichen, die sie sich nicht erklären konnten. Sandra verlegte Listen, vergass Termine, musste den lieb gewonnenen Job aufgeben. «Die drei neuen Stellen, die ich danach antrat, wurden mir in der Probezeit gekündigt», erzählt sie. Nicht nur ihre Arbeitgeber, auch sie hatte das Vertrauen in sich selbst verloren.
Sandra Senn suchte Hilfe bei einer Psychologin und wurde vom Hausarzt an die Memory Clinic in Affoltern überwiesen. Nach umfangreichen Tests und einer Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit stand die Diagnose fest. So niederschmetternd sie war, habe sie auch fast ein wenig Erleichterung gebracht: «Wir hatten mit einem inoperablen Hirntumor gerechnet», sagt ihr Mann. Alzheimer fühlte sich da fast wie das kleinere Übel an. Auch wenn Sandra weiss, was auf sie zukommt: Ihre Mutter litt ebenfalls an Alzheimer.
Doch anders als damals gibt es heute neue Medikamente, die erstmals ursächlich an der Krankheit angreifen: die Antikörper-Wirkstoffe Lecanemab und Donanemab. Nur gibt es für Sandra ein Problem. Während Patienten in den USA, in China, Grossbritannien und Japan bereits damit behandelt werden und Lecanemab seit April auch in der EU, in Liechtenstein, Norwegen und Island zugelassen ist, warten Patientinnen und Patienten in der Schweiz noch. Seit Mitte 2023 ist das Zulassungsgesuch bei der Arzneimittelbehörde Swissmedic hängig. Ein Zeitpunkt für einen Entscheid könne derzeit noch nicht genannt werden, heisst es auf Anfrage.
Viele Medizinerinnen und Mediziner werden langsam ungeduldig. Für Erkrankte und ihre Familien sei die Situation belastend, sagt Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz. Wenn die Zulassung weiter auf sich warten lasse – oder gar abgelehnt werde –, könnten Betroffene versuchen, die Therapie im umliegenden Ausland zu erhalten. «Das birgt Risiken», so Becker: «Ohne engmaschige Kontrolle könnten Nebenwirkungen übersehen werden.»
Swissmedic betont, dass die Behörde im Sinne des Heilmittelgesetzes unabhängig von Politik, Pharmaindustrie und Interessenvertretern arbeitet – und einzig den wissenschaftlichen Daten verpflichtet sei. Wie rasch ein Verfahren vorankomme, hänge stark vom Unternehmen selbst ab: vom Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs, von der Qualität der eingereichten Unterlagen und den Antworten auf die Rückfragen von Swissmedic.
Die neuen Wirkstoffe zielen auf Verklumpungen des Eiweisses Amyloid-Beta ab, das sich im Gehirn ansammelt und als möglicher Auslöser der Krankheit gilt. Die Medikamente binden an die Amyloide und bringen den Körper dazu, sie abzubauen. Doch Medikamentenstudien floppten über Jahrzehnte hinweg. Einige Wissenschafter stellten schliesslich sogar die Amyloid-Theorie infrage.
Doch dann begann sich das Blatt zu wenden. Mit Lecanemab und Donanemab verlangsamen Medikamente erstmals nachweislich den geistigen Abbau – wenn auch nur um rund 30 Prozent. Umgerechnet bedeutet dies, dass Lecanemab während der Studiendauer von eineinhalb Jahren die Krankheit um sechs Monate aufschieben konnte.
Das klingt nach wenig. Für Betroffene und ihre Angehörigen bedeutet es aber ein halbes Jahr später ins Pflegeheim, ein halbes Jahr mehr Leben ohne oder mit wenig Einschränkungen, schlicht: «Ein Gewinn an Lebensqualität», sagt Stefanie Becker. «Die Angehörigen übernehmen oft eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung. Viele werden selbst krank durch die physische und psychische Belastung.» Meist seien es Frauen, die ihr Arbeitspensum reduzierten, was sich später in Altersarmut niederschlagen könne.
Doch von der neuen Therapie profitieren nicht alle Patientinnen und Patienten gleichermassen, wie Studien zeigen. Bei einigen wirkt sie viel besser als die zirka 30 Prozent Krankheitsaufschub, bei einigen gar nicht, bei anderen verursacht sie Nebenwirkungen wie Hirnschwellungen und -blutungen.
«Wir müssen besser verstehen, welche Patientinnen und Patienten am meisten profitieren können und wie es um Langzeitfolgen steht», sagt Rafael Meyer. Er ist Präsident des Vereins Swiss Memory Clinics und Chefarzt der Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie der Psychiatrischen Dienste Aargau. Trotz der aus seiner Sicht kleinen Wirkung verglichen mit dem nicht unerheblichen Ressourcenaufwand spricht er von einer zumindest teilweise berechtigten Euphorie um die Antikörper-Therapien – mit Einschränkungen.
Die sogenannte «Number Needed to Treat» – also wie viele Patienten behandelt werden müssen, damit eine Person einen Nutzen hat – liegt bei etwa zwölf. Allerdings sei das in der Pharmawelt kein per se schlechter Wert, so Meyer. Zum Vergleich: Um mit Statinen einen Schlaganfall zu verhindern, braucht es 125 Behandlungen.
«Die Hoffnung ist, dass diesem ersten Durchbruch weitere folgen», sagt Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz. Die ersten Medikamente seien selten die besten. So war es auch bei den HIV-Therapien vor vierzig Jahren. «Aber sie motivieren Unternehmen, weiter in die Alzheimer-Forschung zu investieren.»
Kürzlich haben die Swiss Memory Clinics Leitlinien erarbeitet, wer für die neuen Medikamente dereinst infrage kommen soll und wer nicht. Die Ausschlusskriterien sind umfangreich. Nur Personen im Frühstadium sollen behandelt werden, also solche mit ersten Gedächtnisproblemen oder leichten Alltagsbeeinträchtigungen. Nicht empfohlen wird die Therapie bei fortgeschrittener Demenz, Psychosen, Depressionen, Epilepsie, anderen Hirnerkrankungen und schwerer chronischer Krankheit. Auch fehlende Betreuung im Alltag und gewisse blutverdünnende Medikamente sind eine Hürde.
Zudem spielt das APOE-Gen eine Rolle: Menschen mit einer bestimmten Variante haben nicht nur einen geringeren Nutzen von der Behandlung, sondern tragen auch ein höheres Risiko für Nebenwirkungen. Deshalb soll bei jedem infrage kommenden Alzheimer-Patienten vor einer möglichen Behandlung ein Gentest durchgeführt werden.
In der Memory Clinic in Affoltern führen sie eine Liste mit möglichen Kandidaten und Kandidatinnen für die neue Therapie. Sandra Senn steht darauf. «Ich bin daran absolut interessiert», sagt sie. «Vielleicht wird es dank der neuen Medikamente ja gar nicht so schlimm bei mir.» Doch ob sie die nötige genetische Voraussetzung überhaupt erfüllt, ist noch offen. Ihr Mann warnt: «Wir dürfen uns nicht zu viel Hoffnung machen.»
Für das Gesundheitssystem stellen sich auch noch andere Fragen: Worauf muss es sich vorbereiten? Wie viele Menschen dürfen und wollen überhaupt behandelt werden? Reichen die Kapazitäten? Denn die Therapie ist aufwendig. Die Antikörper werden je nach Wirkstoff alle zwei bis vier Wochen per Infusion in einer spezialisierten Klinik verabreicht. Mehrere Hirnscans sind zu Beginn nötig, um Nebenwirkungen früh zu erkennen.
Rafael Meyer hat zusammen mit anderen Expertinnen und Experten versucht, die Systembereitschaft der Schweiz einzuschätzen. Demzufolge liegt das Problem seiner Einschätzung nach weniger bei der Bereitstellung der Infusionen selbst. «Die Infrastruktur für Infusionen ist in der Schweiz relativ gut ausgebaut und wahrscheinlich auch ausbaubar», so Meyer.
Das eigentliche Nadelöhr sieht er woanders: «Wir rechnen damit, dass sich durch die neuen Entwicklungen mehr Menschen abklären lassen wollen – und hier könnte die Nachfrage die Kapazitäten übersteigen.» Er rechnet mit einer möglichen Versorgungslücke von 2000 bis 7000 Demenzfällen jährlich und steigenden Wartezeiten. «Es erscheint aktuell nicht realistisch, allen Betroffenen zeitgerecht und flächendeckend die optimale Standardbehandlung zukommen zu lassen. Aber genau das muss unser Anspruch sein und dafür setzen wir uns ein.»
Hinzu kommt: Die Therapie dürfte teuer werden. In den USA kostet Lecanemab 26’500 Dollar pro Jahr. Was in der Schweiz zu zahlen sein wird, ist noch offen. Fest steht: Alzheimer gehört schon heute zu den teuersten Krankheiten mit Gesamtkosten von fast zwölf Milliarden Franken jährlich. Allerdings kommen die Krankenkassen bisher glimpflich davon, etwa im Vergleich zu Krebs. Ein grosser Teil der Kosten entfällt nämlich auf Pflege und Betreuung, die oft von Angehörigen erbracht werden. Ob die Krankenkassen die neuen Therapien übernehmen, ist unklar und wird Teil der Verhandlungen nach einer möglichen Zulassung durch Swissmedic sein.
Während noch vieles unklar ist, was die neuen Antikörper-Therapien betrifft, zeigt sich immer klarer, dass der grösste Nutzen entsteht, wenn man früh ansetzt – am besten noch bevor Symptome auftreten. Zwei grosse Studien, Ahead und Trailblazer-ALZ 3, testen derzeit, ob sich der Ausbruch der Krankheit so sogar verhindern liesse. Möglich würde das durch eine zweite Revolution in der Alzheimer-Forschung: die Diagnostik mittels blutbasierter Biomarker.
Bisher musste man Rückenmarksflüssigkeit entnehmen oder bildgebende Verfahren einsetzen, was aufwendig und teuer ist. Nun aber stehen Bluttests zur Früherkennung vor dem Durchbruch. «Wir stehen wahrscheinlich am Beginn eines Paradigmenwechsels», sagt Rafael Meyer. Gesunde Menschen könnten bald getestet und das Alzheimer-Risiko früh identifiziert und kommuniziert werden, lange vor den ersten klinischen Beschwerden.
Doch noch sei grosse Vorsicht geboten. «Wir müssen jene Personen identifizieren können, die auch tatsächlich in absehbarer Zeit krank werden. Und nicht jene, die kognitiv gesund bleiben trotz positiver Biomarker.» Denn Bluttests können zwar pathologische Eiweisse wie Amyloid und Tau nachweisen. Aber sie erzählen nicht die ganze Geschichte: Nicht alle Personen mit Amyloid- oder Tau-Ablagerungen im Gehirn entwickeln zu Lebzeiten zwingend eine Alzheimerkrankheit.
Ein internationales Forschungsteam mit dem Schweizer Neurowissenschafter Tony Wyss-Coray, Professor an der Stanford University, hat kürzlich Blutproben von über 3300 Menschen untersucht und dabei mehr als 6000 verschiedene Eiweisse analysiert, um neue Hinweise auf Alzheimer zu finden. Dabei entdeckten sie über 400 Eiweisse, die mit der Krankheit in Verbindung stehen, viele davon bisher unbekannt. Eine Kombination aus sieben Eiweissen erwies sich als besonders treffsicher, um Alzheimer vor dem Auftreten erster Symptome zu erkennen.
Sollten solche Bluttests dereinst in die Klinik kommen, brauchen Medizinerinnen und Mediziner klare Leitlinien, wie die Resultate zu interpretieren sind. Und vor allem: Betroffene brauchen rasch Zugang zu weiterer Abklärung, weil ein positives Testergebnis emotional belastend ist.
Sandra Senn derweil hat gelernt, sich emotional abzugrenzen. «Ich mache keine Kompromisse mehr», sagt sie. Mit Freundinnen und Freunden, die ihr nicht guttun, hat sie gebrochen. Sie hält sich an dem fest, was ihr Kraft gibt: Zeit mit ihrer Familie. Besonders die Stunden mit ihrer 27-jährigen Tochter versucht sie bewusster zu erleben. Sie geht spazieren, liest – um ihr Gehirn fit zu halten, sogar zwei Bücher gleichzeitig. «Eines liegt in der Stube, eines auf dem Nachttisch», sagt sie und lacht.
Ein grosser Wunsch ist geblieben: einmal die Nordlichter sehen. Ihr Mann prüft, ob eine Frühpensionierung möglich wäre, um diesen Traum wahr zu machen. Sie hätten es früher tun sollen, sagen beide. Aber damals schoben sie die Dinge noch auf. Jetzt zählt jeder Tag.
Aber da gibts halt viele lukrative Pöschteli für Ex-Politiker...