Sie sind 55 Jahre alt. Wie alt fühlen Sie sich?
David Sinclair: Ich fühle mich wie 18 Jahre. Wobei – eigentlich noch jünger. Denn als ich 18 war, achtete ich viel weniger auf meinen Körper und mein Stresslevel. Ich habe mich ehrlich gesagt noch nie so jung gefühlt wie jetzt.
Dieses Gefühl lässt sich auch wissenschaftlich ermitteln: mit dem biologischen Alter, das anhand von Veränderungen an der DNA bestimmt wird.
Ja, es gibt verschiedene Tests. Im Schnitt liege ich bei diesen Tests etwa zehn Jahre unter meinem chronologischen Alter.
Was tun Sie dafür?
Puh, das würde gut drei Stunden dauern, um Ihnen alles zu erzählen.
Dann vielleicht in Kurzfassung?
Alles fängt bei einem gesunden Lebensstil an. Ich bewege mich viel, gehe regelmässig spazieren, mache Krafttraining und dreimal pro Woche Ausdauertraining. Zusätzlich praktiziere ich Entspannungsübungen. Ich schaue auf mein Gewicht, ernähre mich überwiegend vegan, verzichte auf rotes Fleisch, esse frische und biologische Lebensmittel, rauche nicht, trinke keinen Alkohol.
Nicht einmal das offenbar gesunde Glas Rotwein?
Früher tat ich das tatsächlich. Denn in Trauben – und deshalb auch im Rotwein – findet sich der entzündungshemmende und lebensverlängernde Stoff Resveratrol. Aber es war ein Fehler, deshalb Alkohol zu trinken. Heute nehme ich Resveratrol in Pulverform zu mir. Und nicht zu vergessen: Ich mache Intervallfasten.
Dabei geht es darum, zwischen den Mahlzeiten lange Pausen zu machen. Wieso lässt sich dadurch der Alterungsprozess bremsen?
Unsere Forschung hat gezeigt, dass der Körper beim Fasten – ähnlich wie bei sportlicher Anstrengung – in eine Art Überlebensmodus schaltet und bestimmte Langlebigkeits-Gene aktiviert. Dies betrifft insbesondere eine Gruppe von Genen: die sogenannten Sirtuine. Auch erhöht Fasten den NAD+-Spiegel – Moleküle, die es braucht, damit die Sirtuine funktionieren. Wenn man dagegen ständig isst – drei Mahlzeiten am Tag plus Snacks – bleiben diese Gene weitgehend inaktiv.
Welcher Mechanismus steckt hinter der lebensverlängernden Wirkung der Sirtuine?
Als ich 1997 am MIT im Labor von Leonard Guarente arbeitete, entdeckten wir, dass Sirtuine die epigenetische Schaltzentrale der Gene kontrollieren – und so das Altern bei Hefezellen steuern. Das war ein Wendepunkt. Denn nun wusste man, dass es beim Alterungsprozess nicht nur um die Gene geht, sondern auch darum, wie sie abgelesen werden. Auf dieser Erkenntnis beruht die von mir formulierte «Informationstheorie des Alterns». Sie besagt, dass Altern vor allem dadurch entsteht, dass die Zellen im Körper mit der Zeit ihre «Bedienungsanleitung» nicht mehr richtig lesen können – und nicht dadurch, dass die Bedienungsanleitung zerstört wird.
Sie haben mit Hefezellen begonnen. War es schon damals Ihr Ziel, eines Tages den Menschen zu helfen, länger gesund zu leben?
Ja, absolut. Schon mit 17 wurde mir klar, dass sich kaum jemand ernsthaft mit dem Altern beschäftigt. Das fand ich schockierend. Tatsächlich reicht mein Interesse sogar noch weiter zurück: Als ich vier war, erklärte mir meine Grossmutter, dass alles stirbt – sogar mein Haustier. Das hat mich tief verstört und liess mich nie mehr los. Ich fand es unerträglich, dass bewusste Wesen wie wir einfach sterben sollen. Und genau deshalb habe ich mein Leben dieser Aufgabe gewidmet.
Tech-Milliardär Bryan Johnson, der Langlebigkeits-Guru schlechthin, schluckt über 100 Pillen täglich gegen das Altern. Wie sieht es bei Ihnen aus?
Ich nehme auch einige Nahrungsergänzungsmittel sowie Medikamente zur Regulierung meines Cholesterin- und Blutzuckerspiegels ein. Zudem hin und wieder Rapamycin (Anm. d. Red.: ein verschreibungspflichtiges Medikament, das das Immunsystem unterdrückt und als wirksames Anti-Aging-Mittel gehandelt wird).
Den als Fett-weg-Spritzen bekannten GLP-1-Agonisten wie Wegovy sagt man ebenfalls eine lebensverlängernde Wirkung nach. Was halten Sie davon?
Es scheint tatsächlich so, dass sie deutlich mehr können, als nur beim Abnehmen zu helfen. Sie haben nachweislich positive Effekte auf das Herz-Kreislauf-System und sogar das Gehirn. Ausserdem kann allein die Gewichtsreduktion lebensverändernd wirken.
Wie sieht es bei Menschen aus, die nicht adipös sind?
Wir wissen noch nicht, ob diese Medikamente auch bei ihnen die Lebensspanne verlängern. Ich habe sie ausprobiert, bevorzuge aber ganz klar Bewegung. Denn jedes Medikament birgt auch Risiken. Bei den GLP-1-Agonisten zählt Muskelabbau dazu. Wenn Sie das Medikament nehmen, sollten Sie also unbedingt auch Sport treiben, um dem entgegenzuwirken.
Wir sehen: An Sport kommt man wirklich nicht vorbei.
Das mag für viele hart klingen. Essen schmeckt zu gut, Sport ist zu anstrengend …
… und dann fehlt oft die Zeit.
Die Zeit? Ich leite eine Forschungsgruppe in Harvard, besitze sechs Unternehmen und habe drei Kinder. Wenn ich es schaffe, Sport zu treiben, können es die meisten anderen auch. Es ist alles eine Frage der Prioritätensetzung. Ich blockiere mir feste Zeiten in meinem Terminkalender für Sport – und halte mich auch daran. Einsteigern rate ich dazu, bescheiden anzufangen: Kaufen Sie sich ein Stehpult, gehen Sie zu Fuss zur Arbeit, nehmen Sie die Treppe.
Wie viele gesunde Lebensjahre gewinnt man, wenn man sich an Ihre Tipps hält?
15 Jahre zusätzlich – das ist sozusagen die «Low-Hanging Fruit». Dafür müssen Sie nur das tun, was Ihnen ohnehin jeder Hausarzt empfiehlt: nicht rauchen, keinen Alkohol trinken, sich gesund ernähren, ausreichend schlafen. Wenn man darüber hinaus gezielte Massnahmen ergreift – etwa bestimmte Medikamente, Nahrungsergänzungsmittel oder eine optimierte Ernährung -, dann könnten sogar 20 oder 25 Jahre mehr drinliegen. Natürlich hängt das auch vom individuellen Glück ab.
Ja, denn selbst junge Menschen, die sehr gesund leben, können an Krebs erkranken.
In der Tat schützt der Lebensstil allein nicht hundertprozentig vor Krebs. Deshalb ermutige ich alle, regelmässig Vorsorge zu betreiben. Es gibt heute DNA-Tests, mit denen sich Krebs extrem früh erkennen lässt. Dazu kommen bildgebende Verfahren wie das Ganzkörper-MRT, das Tumoren sichtbar machen kann, bevor sie Symptome verursachen. Ich selbst mache einmal im Jahr ein solches MRT und lasse zusätzlich einen molekularen Bluttest durchführen. So habe ich die Chance, früh gegenzusteuern – bevor mich eine Krankheit erwischt.
Solche präventiven Untersuchungen für die breite Bevölkerung sind umstritten. Kritiker sagen, sie produzieren viele Fehlalarme, überlasten das Gesundheitssystem und führen zu unnötigen Behandlungen.
Dazu zwei Dinge. Erstens: Viele dieser Scans muss man selbst bezahlen – sie sind also keine Belastung für das öffentliche System. Und ganz ehrlich: Ein jährliches MRT kostet nicht mehr als ein täglicher Starbucks-Kaffee. Ich verzichte auf teuren Kaffee und investiere stattdessen in meine Gesundheit. Zweitens: Wer früh mit der Vorsorge beginnt, legt eine Art persönliche Baseline an. Wenn sich im nächsten Jahr etwas verändert, kann man das vergleichen. Das reduziert die Fehlerquote erheblich. Und wenn ich wählen muss: lieber ein Fehlalarm – als eine Krebserkrankung, die erst entdeckt wird, wenn sie schon gestreut hat.
Aber viele Menschen würden sich durch solche falschen Alarme verrückt machen.
Was mir Angst macht, ist der Gedanke, dass in meinem Körper ein Tumor wächst – und ich keine Ahnung davon habe. Prävention gibt mir Kontrolle. Und das ist beruhigend.
Gibt es etwas, das Sie am Älterwerden schätzen?
Natürlich. Mit dem Alter kommen Weisheit, Gelassenheit, Erfahrung. Man kann Kinder grossziehen, Wissen weitergeben, das Leben tiefer geniessen. Ich bin heute glücklicher als mit 20. Aber krank zu werden, gehört definitiv nicht zu den Dingen, die ich am Alter mag.
Manche sagen: Gerade weil das Leben endlich ist, ist es besonders kostbar. Was denken Sie?
Ganz ehrlich? Ich halte das für Unsinn. Ich geniesse dieses Gespräch nicht, weil ich weiss, dass ich sterbe – sondern obwohl ich es weiss. Der Moment zählt. Man lebt nicht intensiver, nur weil man sich die eigene Endlichkeit bewusst macht. Dieses Argument überzeugt mich nicht.
Ein anderes Argument lautet, dass Altern ein ganz natürlicher biologischer Prozess ist. Sie hingegen bezeichnen Altern als eine Krankheit. Warum?
Wir alle werden irgendwann an einer schweren Krankheit sterben – und diese Krankheit heisst Altern. Die Krankheiten, die wir gemeinhin für die eigentlichen Übel halten – Herzinfarkt, Alzheimer, Krebs – sind in Wahrheit nur Symptome des Alterns. Ohne Alterung gäbe es deutlich weniger Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Und wahrscheinlich auch weniger Krebs, weil unser Immunsystem in jungen Jahren viel besser funktioniert und entartete Zellen erkennt und beseitigt. Wir müssen umdenken: Nicht die Krankheiten sind das eigentliche Problem, sondern die Alterung, die ihnen zugrunde liegt.
Mit dieser Argumentation müsste man Altern wie eine Krankheit behandeln können?
Genau das ist unser Ziel. Mein Labor arbeitet an Medikamenten und Technologien, die gezielt in den Alterungsprozess eingreifen. Bei alten Mäusen haben wir zum Beispiel gezeigt, dass wir ihnen ihre Lernfähigkeit zurückgeben können. Auch konnten wir nachweisen, dass man mit epigenetischer Zellreprogrammierung Multiple Sklerose behandeln kann – und wir machen Fortschritte bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) und Alzheimer. Ebenfalls bei Mäusen ist es uns gelungen, altersbedingte Blindheit rückgängig zu machen. Das Unternehmen Life Biosciences, das ich gegründet habe, schaffte sogar, gegen Blindheit bei Affen vorzugehen.
Wie weit sind diese Technologien für den Menschen?
Wir hoffen, Anfang nächsten Jahres die ersten Patientinnen und Patienten zu behandeln. Es würde sich um eine Gentherapie handeln: eine Injektion ins Auge, mit der drei Gene aktiviert werden. Wenn wir recht haben, können wir so verlorene Sehkraft zurückbringen.
Das klingt gut. Aber es ist ja noch einmal etwas anderes, als den ganzen Körper zu verjüngen?
Natürlich. Das Auge ist ein ideales Testfeld: gut zugänglich und relativ isoliert. Aber wenn es dort funktioniert, ist das nur der Anfang. In Tierversuchen konnten wir zeigen: Auch Muskelgewebe, Nieren, Haut und andere Organe lassen sich mit dieser Methode verjüngen. Andere Forschungsteams haben sogar gezeigt, dass sich ganze Mäuse verjüngen und ihre Lebensdauer verlängern lässt.
Über wie viele zusätzliche Lebensjahre sprechen wir?
Die Mäuse lebten etwa doppelt so lange wie ihre Artgenossen – bei besserer Gesundheit. Und das Beste: Die Methode lässt sich offenbar mehrfach anwenden. Wir setzen die Verjüngung zum Beispiel zwei Monate lang ein, pausieren dann sechs Monate – und aktivieren sie erneut. Das zeigt: Altern lässt sich nicht nur verlangsamen, sondern womöglich immer wieder rückgängig machen.
Das klingt nach Unsterblichkeit.
Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber ich hoffe, dass wir den Menschen mehrere Jahrzehnte gesunder Lebenszeit zusätzlich schenken können. Heute liegt das Maximum, das ein Mensch je erreicht hat, bei 122 Jahren. Da ist noch Luft nach oben. Ich bin überzeugt, dass bereits Menschen unter uns leben, die 150 Jahre alt werden.
Wenn die Menschen aber die letzten Jahrzehnte unter Demenz oder Alzheimer leiden, sind das keine schönen Aussichten.
Deshalb ist eines meiner Hauptziele, das Gehirn jung zu halten. Wenn wir bei unseren Studien feststellen, dass sich durch einen Wirkstoff nur der Körper, nicht aber das Gehirn verjüngen lässt – dann lassen wir die Finger davon. Wenn die Menschen gesund altern, profitiert auch die Gesellschaft davon. Früher war es doch so: Der Enkel schiebt den Grossvater im Rollstuhl durchs Pflegeheim. Ich will eine Zukunft, in der es andersherum ist: Grosseltern sollen ihre Familien unterstützen und aktiv am Leben teilnehmen können. Das ist nicht nur gesellschaftlich, sondern auch ökonomisch sinnvoll.
Wie meinen Sie das?
Gemeinsam mit zwei Ökonomen habe ich durchgerechnet, was ein einziges zusätzliches gesundes Lebensjahr in der gesamten US-Bevölkerung für die Wirtschaft hätte. Das Ergebnis: 86 Billionen Dollar. Bei zehn Jahren wären es 860 Billionen – fast das Zehnfache des weltweiten BIP. Das zeigt: Langlebigkeit ist nicht nur eine medizinische, sondern auch eine wirtschaftliche Chance. Das gilt nicht nur für die USA. Wir stehen in vielen Ländern vor demografischen Herausforderungen. Europa steckt in einer Krise, China ebenfalls. Wenn wir diese Entwicklung wirtschaftlich auffangen wollen, brauchen wir Menschen, die länger gesund und produktiv bleiben.
In der Schweiz liegt die durchschnittliche Lebenserwartung mittlerweile bei über 83 Jahren. Doch mit 65 Jahren werden die Menschen pensioniert. Das geht ökonomisch nicht auf – erst recht nicht, wenn die Lebenserwartung auf 100 steigt. Was schlagen Sie vor?
Schweden hat die Lösung: Das schwedische Parlament hat beschlossen, das staatliche Rentenalter ab 2026 an die Lebenserwartung zu knüpfen.
In den USA gerät die Wissenschaft unter Präsident Donald Trump zusehends unter Druck. Ihrer Universität wurden Milliarden an Forschungsgeldern eingefroren, weil sie sich dem angeforderten Kurswechsel nicht beugte. Spüren Sie bereits Auswirkungen bei Ihrer Forschung?
Oh ja. Erst kürzlich wurde die staatliche Förderung meines Harvard-Labors gestrichen – vollständig. Und nicht nur mein Labor ist betroffen – alle Forschungsgruppen an der Harvard Medical School. Die Lage ist ernst. Der aktuelle Haushaltsentwurf im US-Kongress sieht eine Kürzung der Mittel für medizinische Forschung um 40 Prozent vor. Wenn das durchkommt, wäre die Altersforschung in den USA massiv geschwächt. Wir erleben gerade eine Welle des Anti-Intellektualismus. Die Wissenschaft steht unter Beschuss – auch meine.
Was tun Sie jetzt?
Ich mache mit einem Podcast, der bald starten wird, auf meine Forschung aufmerksam und beginne, Geld für die Forschung zu sammeln.
Und dann warten, bis in vier Jahren ein neuer Präsident an der Macht ist?
Ich fürchte, das Problem ist grösser als Trump. Die Gesellschaft in den USA ist sehr gespalten. Es herrscht ein Hass auf die Elite – und auf die Universitäten. Der Wert der medizinischen Forschung wird nicht anerkannt. Als Folge davon werden Millionen von Menschen sterben. Das ist ein Fakt.
Käme für Sie ein Wechsel in ein anderes Land infrage – etwa in die Schweiz?
Einige meiner Kolleginnen und Kollegen denken tatsächlich über eine Rückkehr in ihre Heimatländer nach. Ich versuche vorerst, in den USA Aufmerksamkeit zu schaffen und Geld zu beschaffen. In den sozialen Medien habe ich den Satz gepostet: «We will not go down without a fight!» (aargauerzeitung.ch)
Zum Glück. Irgendwann ist es Zeit zu gehen und Platz für neues zu machen.
Ich stelle mir meine Urgrossmutter in der heutigen Zeit vor: Sie käme mit der technologischen Entwicklung, der Digitalisierung und auch der gesellschaftlichen Veränderung überhaupt nicht klar.
Und wenn ich an Putin, Trump und andere Machtgierige denke, bin ich auch froh dass die nicht ewig leben.
Auf ein schönes gesundes langes Leben.
Falsch.
Altern ist seit je ein natürlicher Prozess.
Tatsächlich krank ist, natürliche Prozesse in wahnhafter Selbstüberschätzung der eigenen Bedeutsamkeit als Krankheit zu bezeichnen.